19. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2016

Barock – die unterschätzte Epoche

von Alfons Markuske

Puder, Pomp und Dekadenz können durchaus als Synonyme für die Zeit zwischen 1600 und 1750 gelten, die seit dem 19. Jahrhundert, als der Begriff „erfunden“ wurde, allgemein als Barock bezeichnet wird. Diese Bezeichnung stand von Anfang an, wie Peter Herrsche, der Grundsätzliches zum Barock publiziert hat, vermerkte, „für schwülstig, überladen, abgeschmackt, unnatürlich, bizarr, für leeren Prunk, Irrationalität und Absurdität“.
Europäische Herrscher lieferten sich einen ebenso pubertären wie ruinösen Wettstreit darum, wer seine Macht am opulentesten zu präsentieren in der Lage war, hießen sie nun Ludwig XIV., August der Starke oder Maria Theresia. Und das in einer Epoche, deren Hochperiode (ab 1650) unmittelbar auf den 30-jährigen Krieg folgte, der Deutschland verheert und ganz Europa schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte, und in der die überwiegende Mehrheit der Menschen in erbarmungswürdiger Armut zu leben gezwungen war. Die steingewordenen Zeugnisse herrschaftlicher Protzsucht – die Schlösser Versailles und Schönbrunn sowie der Zwinger in Dresden – sind heute Touristenmagneten. Schon durch diese knappen Charakterisierungen wird zugleich deutlich, was Wilhelm Hausenstein, ein früher Barockforscher, auf den Punkt brachte: „Der Barock (samt dem in Frankreich und anderenorts dazu gehörigen Absolutismus, wäre zu ergänzen – A.M.) ist ein höchst katholisches Phänomen.“
Dagegen war der zeitgleich aufstrebende Protestantismus von ganz anderem Zuschnitt, wobei allerdings mindestens die verbiesterte calvinistische Askese mit ihrem unleugbaren misanthropischen Einschlag das Kind gleich wieder mit dem Bade ausschüttete. Gleichwohl begründete der Protestantismus auch humanistische Institutionen, die zum Teil bis heute fortwirken. So schuf der Pietist August Hermann Francke die gleichnamigen Stiftungen zu Halle an der Saale, in deren Mauern der Autor weiland das Vergnügen hatte, sich vier Jahre lang in klassischen Altsprachen zu ertüchtigen und 1971 sein Abitur abzulegen. (Die Stiftungen – hinsichtlich der Bausubstanz und in der Erhaltung historischer Kleinode wie der einzigen vollständig erhaltenen barocken Wunderkammer Europas zu DDR-Zeiten wenig pfleglich behandelt – stehen heute wieder in voller Blüte.)
Und so ist es nur angemessen, dass Franckes Konterfei zurzeit einen repräsentativen Platz in einer großen Ausstellung in Mannheim einnimmt, die sich, respektive dem Besucher die Frage stellt „Barock – Nur schöner Schein?“ und sich anheischig macht, die bleibenden Leistungen einer viel geschmähten Epoche ins rechte, will sagen: richtige Licht zu rücken.
Dazu hat die Kuratorin Uta Coburger mit ihren Mitstreitern an die 300 Exponate aus diversen Museen und Sammlungen zusammengetragen, die unter sechs thematischen Schwerpunkten – Wissen, Ordnung, Glaube, Zeit, Körper und Raum – einen komplexen Blick, wie man ihn so bisher nicht kannte, auf eine historische Periode ermöglichen, in der europäische Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur Bleibendes hervorbrachten und sich gesellschaftliche Entwicklungen vollzogen, durch die sich die Epoche der Aufklärung vorbereitete.
Bahnbrechende Erfindungen und Entdeckungen sind aus dieser Zeit auf uns gekommen. Antoni van Leeuwenhoek schuf das erste funktionsfähige Lichtmikroskop mit immerhin 130-facher Vergrößerung und entdeckte damit die Bakterien. Das Fernrohr, das Galilei ins Universum richtete, stammt aus dem Barock. Ebenso das Medium, mittels dessen wir bis heute von derartigen Geschehnissen erfahren – die Zeitung.
Nicht weniger scharf als der Grundkonflikt dieser Epoche, der zwischen Katholizismus und Protestantismus, wurde ein weiterer ausgetragen – der zwischen Glauben und Wissenschaft. In der Mannheimer Ausstellung ist das von dem Jesuiten Christoph Scheiner erfundene Heliotrop zu sehen, mit dem dieser die Sonnenflecken entdeckte, die sein eigener Orden aber per Verbot wieder aus der Welt schaffen wollte. Dazu Kuratorin Coburger: Scheiner habe zum Phänomen der Sonnenflecken mit Galilei korrespondiert, „die beiden haben sich sogar gestritten in ihrem Briefwechsel, wer der erste war, der die Flecken entdeckt hat, und dann hat irgendwann der Jesuitenorden dem Herrn Scheiner seine Entdeckung verboten – weil sie gesagt haben, die Sonne ist ein Sinnbild Mariens, und Maria hat keine Flecken.“
An anderer Stelle wiederum beförderte der Glaube die Wissenschaft gar, wenn auch eher nolens volens: In Christus war Gott Mensch geworden, und dessen Anatomie war Gottes ureigenstes Werk, daher sollte die Erforschung derselben den Schöpfer besser verstehen helfen. Auch dazu bietet die Exposition Exquisites. Nochmals Uta Coburger: „Eins der ungewöhnlichsten Objekte der Ausstellung, das noch nie ausgeliehen war von dem Leihgeber in Ingolstadt, ist ein Kruzifix aus Wachs mit einer Bauchklappe. Man kann dem Christus den Bauch aufklappen, und dann sieht man anatomisch genau sein Inneres, sein Gedärm.“ „Die Anatomie des Dr. Tulp“ von Rembrandt hingegen ist in Mannheim nicht zu sehen, dafür jedoch andere Werke des Maler-Genies. Ebenso wie von seinen Kollegen Rubens und van Dyck – allesamt Barockkünstler und bis heute weltberühmt und geschätzt. Ebenso wie ihre komponierenden Kollegen Bach, Händel oder Vivaldi.
Was bleibt noch zu sagen zum Barock?
Vielleicht, dass ihm auch das berühmteste, das populärste Gedicht der Deutschen entstammt, bisher bereits siebzigmal vertont, zuletzt von Herbert Grönemeyer, das, wie es Marc Reichwein in der WELT apostrophierte, „Baldriparan Forte der deutschen Lyrik“ – mit so tröstliche Zeilen wie diesen:

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.

Es ist im Übrigen dem Dichter Matthias Claudius gegenüber höchst ungerecht, dass außer diesem „Abendlied“ üblicherweise nichts Weiteres mit ihm verbunden wird. Denn mindestens sein „Kriegslied“ – Das Blättchen brachte es in der Ausgabe 12/2011 in Erinnerung – passte weit besser in die Zeit.
In den Barock.
Und in unsere Zeit.

Barock – Nur schöner Schein? Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim; noch bis 19. Februar 2017.