von Wolfgang Brauer
Dieser Tage veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung unter dem Titel „Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche“ eine Studie zur Kinderarmut in Deutschland. Die Befunde sind erschreckend. 14,7 Prozent aller noch nicht 18-Jährigen in Deutschland lebten 2015 in Familien, die von der Zahlung der staatlichen Grundsicherung („SGB II“) abhängig waren. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Eher im Gegenteil: Im Osten hat sich die Situation verfestigt, eine Verschlechterung ist in vielen Regionen kaum noch vorstellbar. Im Westen stieg die Quote der armutsbetroffenen Kinder seit 2011 stetig an. 57 Prozent der sieben bis 14 Jahre alten Kinder leben bereits drei oder noch mehr Jahre in Armut. Die Autoren der Studie sprechen von einer „Armutsfalle“.
Angesichts dieser Zustände ist ein von Christian Jäger und Erhard Schütz im Verlag für Berlin-Brandenburg in diesem Sommer herausgegebenes Buch von geradezu bestürzender Aktualität. Es handelt sich um Alexander Graf Stenbock-Fermors „Deutschland von unten. Reise durch die proletarische Provinz“. Das Buch ist alt, die Erstausgabe erschien bereits 1931 und machte seinerzeit durchaus Furore. Die Herausgeber zitieren im Nachwort die Vossische Zeitung (Axel Eggebrecht): Stenbock-Fermor habe mit seinem Buch einen „höllische[n] Bericht“ vorgelegt, einen „furchtbare[n] Reiseführer durch das Elend: Heimarbeit, Kinderarbeit, 16stündige Schufterei für Pfennigverdienste“.
Hier ist nicht der Ort, um auf die abenteuerliche Biografie des baltischen Grafen und Freikorpskämpfers Alexander von Stenbock-Fermor einzugehen: Er schlug sich jedenfalls im Laufe der 1920er Jahre als tapferer Streiter für ein besseres Deutschland auf die Seite der Linken. In der nationalbolschewistisch orientierten Monatsschrift Aufbruch. Kampfblatt im Sinne des Leutnants a.D. Scheringer – hinter der Leute wie Hans Kippenberger, Bodo Uhse, Ludwig Renn, Beppo Römer und eben auch Stenbock-Fermor standen – beschrieb er im Dezemberheft 1931 die Motivation für seinen Bericht: „Ich wollte von einem unbekannten Deutschland berichten, dem Deutschland des Hungers, der Rechtlosigkeit, der erwachenden Massen… […] Dieses Buch schrieb ich nicht, um Mitleid zu erwecken. Sentimentale Gefühle helfen uns nicht mehr.“ – Und dann folgt die im damaligen KPD-Umfeld obligatorische Aufforderung zur sozialistischen Revolution. Lassen wir einmal dahingestellt, wie realistisch dieser Politikansatz für das Jahr 1931 war. Als der „rote Graf“ 1930 seine – durch einen Verlagsvorschuss ermöglichte – Reise durch die Armutsregionen des Landes (den Thüringer Wald, den Frankenwald, das Erzgebirge, das schlesische Eulengebirge, das Ruhrgebiet und das proletarische Berlin) absolvierte, hatte die Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt in Deutschland noch nicht erreicht. Der kam mit 6,12 Millionen Arbeitslosen erst im Februar 1932. Ein Jahr später kam Hitler. Alexander Stenbock-Fermor berichtet über die Normalität der „Goldenen Zwanziger“, deren Stabilisierung tatsächlich „relativ“ war und Millionen Menschen nicht erreichte.
Aufschlussreich ist der topographische Vergleich. Die seinerzeit von ihm aufgesuchten Regionen sind auch heute wieder „abgehängte“ Gebiete. Mit teils makabren Entwicklungen: Wenn unter aktuellen bundesdeutschen Bedingungen beispielsweise Unternehmer ihre Produktion aus dem Thüringer Schiefergebirge über den Rennsteig nach Oberfranken verlagern, weil sie dort noch günstiger das geltende Tarifrecht unterlaufen können, dann wird die Analyse Stenbock-Fermors aus dem Jahre 1931 auf geradezu beängstigende Weise bestätigt: „Überall, wohin ich kam, steigendes Elend, steigende Verbitterung, steigende Verzweiflung. Eine Welt der Armut, des Hungers, der Verzweiflung.“ Gut, der Frankenwald ist heute keine Hungerregion. Auch das „Spielzeugland“ rund um Sonneberg nicht. Und kein siebenjähriges Kind muss hier derzeit bis in die Nacht hinein Puppenköpfe oder Holzspielzeuge bemalen. Dieses Schicksal erleiden derzeit die Kinder in vielen Regionen Südostasiens. Aber das Mycel der Armut zieht sich wieder unübersehbar durch das Gebirge. Die Angst vor dem Abstieg von der staatlich alimentierten Armut in das endgültige soziale Elend kriecht durch die Täler. Diese Angst schüttelt die Urenkel der Kinder, die Alexander Graf Stenbock-Fermor in den fränkischen Dörfern Meierhof und Schwarzenstein, im erzgebirgischen Rübenau ebenso wie im niederschlesischen Waldenburg traf. Die haben ihre Erfahrungen und Ängste in den Familien weitergegeben. Und in diesen Familien lebt die Mehrzahl der eingangs erwähnten 14,7 Prozent aller Kinder der Bundesrepublik. Die zitierte „Armutsfalle“ der Vielen wird in diesem Land genauso an die nächste Generation weitergereicht wie bei den Wenigen Immobilienbesitz und Aktienpaket. „Nie wieder hungern, nie wieder frieren!“ – so erklärte mir einmal ein linker Kommunalpolitiker seine politische Motivation. Der stammte aus diesen Hungergebieten. Wie verhalten sich Menschen, wenn ihre Ängste von „der Politik“ nicht mehr ernst genommen werden?
Stenbock-Fermors Bericht ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Es handelt sich mitnichten um die archäologisch-publizistischen Befunde eines vergangenen Deutschlands. Die Geister der Vergangenheit sind nicht tot, sie schlafen nur. „Deutschland von unten“ liest sich wie ein Menetekel an die Adresse heutiger Politik. Historischen Wert haben allenfalls die – allerdings nur das Ruhrgebietskapitel schwerer lesbar machenden – Agitationsreden des Autoren an die imaginären Parteizensoren. Das kann man getrost überblättern. Alexander Stenbock-Fermor lässt ansonsten die Fakten wirken. Deren Macht ist überwältigend. Wem dann noch immer die Vorstellungskraft fehlt: Die Bildbeigaben sprechen eine eindeutige Sprache. Das Buch hat mich auch 75 Jahre nach dem ersten Erscheinen tief erschüttert.
Alexander Graf Stenbock-Fermor: Deutschland von unten. Reise durch die proletarische Provinz, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2016, 240 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Alexander Graf Stenbock-Vermor, Armut, Deutschland, Kinderarmut, Wolfgang Brauer