von Dieter B. Herrmann
Historiker fragen meist: Was ist geschehen, wie und warum? Doch mitunter ist es auch interessant zu erfahren, warum etwas eigentlich zu Erwartendes nicht stattgefunden hat.
Eine solche Frage kam des Öfteren aus dem Publikum im Anschluss an Vorträge, die ich über Manfred von Ardenne gehalten hatte. Insbesondere wurde gefragt, ob nicht Manfred von Ardenne eigentlich den Nobelpreis verdient gehabt hätte und warum er ihm nie zugebilligt wurde.
Ardenne hat in seinem langen und überaus erfolgreichen Leben eine schier unerschöpfliche Fülle von Erfindungen gemacht und vermarktet, von denen viele heute unser Alltagsleben mitbestimmen. Schon als junger Mann stieg er zum Rundfunk- und Fernsehpionier auf, später war er maßgeblich an der Entwicklung der Elektronenmikroskopie beteiligt und schließlich wendete er sich auch medizinischen Themen, unter anderem der Krebstherapie zu, um nur mosaikartig einige seiner Forschungsschwerpunkte zu nennen. Die Liste seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen umfasst 719 Titel, zu denen sich noch 36 Bücher gesellen. Rund 600 Erfindungen und Patente zur Funk- und Fernsehtechnik sowie zur Elektronenmikroskopie, Nuklear-, Plasma und Medizintechnik gehen auf sein Konto. Eine erstaunliche Lebensbilanz aus Einfallsreichtum, Begeisterung und nie erlahmendem immensen Fleiß. Dass irgendwann auch der Nobelpreis hätte winken können, würde wahrscheinlich niemand behauptet haben, wäre da nicht der Ritterschlag des Komitees aus Stockholm vom Jahre 1986, als der begehrte Preis an die beiden Deutschen Ernst Ruska (1906–1988) und Gerd Binning (geboren 1947) sowie den Schweizer Heinrich Rohrer (1933–2013) vergeben wurde. Begründung bei Ruska: „…für sein fundamentales Werk in der Elektronenoptik und für die Konstruktion des ersten Elektronenmikroskops“, die aus dem Jahre 1931 stammt. Bei Binning und Rohrer lautet die Begründung: „… für ihre Konstruktion des Rastertunnelmikroskops“.
Nun muss man wissen, dass Ardenne durch das von ihm geschaffene Raster-Elektronenmikroskop von 1937 unmittelbar in die Reihe schöpferischer Erfinder der Elektronenmikroskopie gehört. Ardenne selbst hat über die Entstehung dieser Erfindung in seiner letzten Autobiographie „Die Erinnerungen“ (Herbig-Verlag, München 1990) sehr ausführlich berichtet. Interessanterweise hat er auch die Rolle des Mitarbeiters von Ruska, Max Knoll (1897–1969) dabei uneingeschränkt gewürdigt, indem er schrieb: „… die zündende schöpferische Idee resultierte […] aus der Kombination einer fremden und einer eigenen elektronenoptischen Anordnung. Es war dies der von Max Knoll beschriebene Testbildgeber mit Abtastung eines Klischees durch einen noch relativ groben Elektronenstrahl von einigen Zehntel Millimetern Durchmesser (also keine mikroskopische Abbildung) und die von mir kurz zuvor erdachte Anordnung zur Herstellung submikroskopisch feiner Elektronen-Brennflecke durch ein- oder mehrstufige Verkleinerung mit Hilfe kurzbrennweitiger (magnetischer) Elektronenlinsen.“ Hinzu kam dann noch die weitere fruchtbare Idee, die austretenden Sekundärelektronen durch einen Sekundärelektronen-Vervielfacher (SEV) um viele Zehnerpotenzen zu verstärken und zur Modulation des Elektronenstrahls der Bildschreibröhre zu verwenden. Im Unterschied zum Elektronenmikroskop von Ruska, das keine Bilder von Oberflächen liefern konnte, war dies beim Raster-Elektronenmikroskop in großer Schärfe und bis zu einer Auflösung von zehn Nanometern, das heißt zehn Millionstel Millimetern möglich. Deshalb findet man heute Ardenne unter dem Stichwort „Rasterelektronenmikroskop“ auch bei Wikipedia unangefochten als den Erfinder genannt. Schon 1941 hatte ihm daher die Preußische Akademie der Wissenschaften die renommierte Leibniz-Medaille zuerkannt, völlig zurecht und zusammen mit den anderen an der Entwicklung der Elektronenmikroskopie Beteiligten Max Knoll, Ernst Ruska, Bodo von Borries (1905-1956), Ernst Brüche (1900–1985), Hans Boersch (1909–1986) und Hans Mahl (1909–1988).
An der Entscheidung des Nobelpreis-Komitees, von den „Urvätern“ der Elektronenmikroskopie ausschließlich Ruska auszuzeichnen, gab es denn auch viel Kritik. Die Verbindung zu der zweifellos preiswürdigen Leistung von Rohrer und Binnig wirkte zudem befremdlich, vor allem, weil „zwischen der von Ruska entscheidend geprägten Variante des Elektronenmikroskops und dem Raster-Tunnelmikroskop“ im Gegensatz zu „dem von Ardenne 1937 erfundenen Raster-Elektronenmikroskop keinerlei Gemeinsamkeiten“ bestehen, wie der Ardenne-Forscher Gerhard Barkleit in seiner Ardenne-Biographie von 2006 völlig zutreffend hervorhebt. Tatsächlich liegen dem Raster-Tunnelmikroskop völlig andere physikalische Prinzipien zugrunde als den Erfindungen von Ruska, Knoll, Ardenne & Co.
Mehr noch als die fragwürdige Entscheidung, über die sich auch Ardenne selbst in seinen „Erinnerungen“ kritisch äußerte, hat ihn aber enttäuscht, dass Ruska in seiner Nobelpreis-Rede ihn und seine Arbeiten mit keinem Wort erwähnte. Dies war umso unverständlicher, als er mit Ruska – trotz aller vorangegangenen Rivalitäten in der Frühzeit der Elektronenmikroskopie – schon seit 1958 wieder in brieflichem Kontakt gestanden hatte. Ruska hatte ihn sogar zu einem Vortrag auf dem 4. Internationalen Kongress für Elektronenmikroskopie nach Berlin 1958 eingeladen und ihn in seinem Dresdner Institut 1963 besucht. Allerdings hatte er Ardennes Beiträge zur Entwicklung der Elektronen-Mikroskopie auch in einem Beitrag aus dem Jahre 1964 in der Naturwissenschaftlichen Rundschau mit keinem Wort erwähnt, woraufhin Ardenne einen erneuten Briefwechsel mit ihm begann.
Der Physiker Klaus Thiessen (geboren 1927), der nach dem II. Weltkrieg jahrelang mit Ardenne in der Sowjetunion zusammengearbeitet hatte, meint sicher nicht zu Unrecht, es wäre besser gewesen, wenn der Nobelpreis für die frühen Innovationen zur Elektronenmikroskopie „lange vor dem Tod von Max Knoll“, das heißt vor 1969 vergeben worden wäre. Dann hätten Ardenne, Knoll und Ruska zweifelsfrei den Preis erhalten müssen. Der sehr späte Entschluss (55 Jahre nach Ruskas Leistung) hatte dann aber möglicherweise zu der Entscheidung geführt, Binnig und Rohrer mit einzubeziehen, entsprechend der Satzung der Nobel-Stiftung, vor allem aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen.
Doch war es das allein? Gerhard Barkleit hat auf die politische Situation und Ardennes politisches Verhalten zu dieser Zeit hingewiesen – Ereignisse im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld der Entscheidung des Nobelkomitees. Im April 1985 setzte sich Ardenne in viel beachteten Publikationen (darunter auch im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan des ZK der SED) argumentativ für einen Stopp der sogenannten Sternenkriegspläne des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan ein, ganz wie übrigens auch der US-amerikanische Physiker und Nobelpreisträger von 1967 Hans Bethe. Ardennes Schrift „Sternenkriege“ erschien in zehn Sprachen und ist mit Sicherheit auch im Westen zur Kenntnis genommen worden. Es wäre also auch nach Ansicht von Gerhard Barkleit durchaus denkbar, dass diese eindeutige politische Positionierung Ardennes die Entscheidung des Nobelkomitees zu seinen Ungunsten beeinflusst haben könnte.
Dies werden wir allerdings so schnell nicht in Erfahrung bringen. Nach den Statuten der Stiftung bleiben nämlich alle Informationen sowohl über Nominierte wie auch über die Nominierenden „sowie diesbezügliche Meinungen und Untersuchungen“ für 50 Jahre unter Verschluss. Frühestens im Jahre 2036 könnte man also versuchen, eine seriöse wissenschaftliche Auslotung dieses Problems in Angriff zu nehmen.
Ein singulärer Fall ist dies jedoch in der Geschichte des Nobelpreises nicht. Fast immer gibt es Kritik an den Vergaben, oft auch den Verdacht tendenziöser Vergabepraktiken, besonders bei Preisen für Literatur oder den Friedensnobelpreis, wo es ja häufig genug für jeden kritisch denkenden Menschen geradezu offenkundig ist. So war denn auch Ardennes knappes Statement gegenüber dem Spiegel-Redakteur Heinz Höfl im Jahre 1990, als es um einen möglichen Nobelpreis für seine medizinischen Leistungen ging, durchaus von Abgeklärtheit und höflicher Gelassenheit gekennzeichnet. Ardenne sagte: „Der Nobelpreis ist eine reine Glückssache.“
Ebenso tröstlich für Ardenne wie wohl auch zutreffend waren die Worte von Ardennes Freund, dem Chemiker Otto Westphal (1913–2004), die er Ende Oktober 1986 an ihn richtete: „Aus meiner Sicht zählt, was nach 100 Jahren noch besteht […] Viele werden dann vergessen sein. Du aber nicht.“
(wird fortgesetzt)
Schlagwörter: Dieter B. Herrmann, Ernst Ruska, Manfred von Ardenne, Nobelpreis, Rasterelektronenmikroskop