von Wolfgang Brauer
Hermann Kant ist tot. Seinen Nachruf hat er sich 1991 selber geschrieben. Das war eine kluge Entscheidung. Er goss ihn in die Form einer dicken Autobiografie und nannte sie „Abspann“. Ende des Films. Denselben Trick benutzte sein Künstlerkollege Willi Sitte mit seinem Buch „Farben und Folgen“ (2003). Sie hatten gute Gründe für solches Vorgehen.
Beide waren international renommierte Künstler. Das brachte schon immer Privilegien mit sich. Das schafft Neider. Beide waren viele Jahre Chef ihrer Künstlerverbände und hatten als „Herolde“ des sozialistischen Realismus „über das Wohl und Wehe tausender Künstler in der DDR entscheiden können“, wie es die FAZ 2013 in einem Nachruf auf Willi Sitte mit bösartigem Pathos ausdrückte. Natürlich hatten Leute wie Kant und Sitte Macht und Einfluss. Das schafft falsche Freunde und richtige Feinde. Differenzierungen durch ihre alten Kontrahenten sind da nicht zu erwarten. Es nutzt auch nichts, wenn man, wie Hermann Kant es getan hatte, die eigene Persönlichkeit gegen Zensoren-Willkür zum Beispiel im Ringen gegen das Publikationsverbot eines Kollegen wie Erich Loest auf die Waagschale geworfen hatte. Kants Nicht-Widerstehen gegen den Rauswurf Stefan Heyms und acht anderer Autoren aus dem Berliner Bezirksverband des Schriftstellerverbandes der DDR im Jahre 1979 – er räumte später ein, dass sein „Nein“ dies wohl verhindert hätte – gilt spätestens seit Karl Corinos „Die Akte Kant“ (1995) kunstpolitischen Kleingeistern als der Sündenfall par excellence. Wer solche Leute verstehen will, greife zu Lessings „Nathan“. Nein, nicht zur oft missbrauchten „Ringparabel“. Man lese die Szene, in der der junge Tempelritter verzweifelt den Patriarchen von Jerusalem um Rat angeht, wie er es denn mit der Tochter des Juden halten solle (IV. Aufzug, 2. Szene). In der stereotypen Antwort des Patriarchen steckt dieses Verhaltensmuster, das in Deutschland mindestens seit den Zeiten der „Dunkelmänner“ des Crotus Rubeanus und Ulrich von Huttens kritischen Geistern das Leben immer zur Hölle zu machen versuchte. Meistens gewannen (und gewinnen) diese Typen die Auseinandersetzungen des Tages. Respekt vor intellektuellen Spitzenleistungen gehörte noch nie zu den Stärken dieses Landes.
Zu den bösartigsten Treppenwitzen der Weltgeschichte geriet das ekelhafte Verhalten der Dunkelmänner des 14. Deutschen Bundestages während der Eröffnungsrede des Alterspräsidenten Stefan Heym am 10. November 1994 – fünf Jahre nach seiner Unterschrift unter dem Aufruf „Für unser Land“. Da zeigte sich plötzlich, dass es diese Leute 15 Jahre zuvor mit Heym und den anderen auch nicht ehrlich gemeint hatten. Die Sturköpfe Sitte, Kant und auch Heym nahmen die Deutsche Demokratische Republik als ihren Einsatz lohnende Alternative zum anderen deutschen Staat ernst. Nicht als „Experiment“, mit den Lebensschicksalen von Menschen experimentiert man nicht, wenn man seine Kunst ernst nimmt. Obwohl dem in seine Sprachbilder stark verliebten Spottvogel Kant mitunter zynisch wirken müssende Ausrutscher widerfuhren, die er später gerne wieder zurückgeholt hätte. Seiner 1976er Beschimpfung Reiner Kunzes hat er selber auf der Liste seiner „absoluten Dämlichkeiten“ einen Spitzenplatz eingeräumt.
Stefan Heyms Mittun als – obzwar parteiloser – Politiker in den Reihen der damaligen PDS-Fraktion wird von den heutigen Dunkelmännern (und -frauen) gerne mit generösem Augenzwinkern als Alterstorheit abgetan. Sitte und Kant genossen dieses vermeintliche Privileg nicht: „Im Dienste der Sache“ kanzelte die Berliner Zeitung Kant bereits im Titel eines ansonsten um eine gewisse Differenzierung bemühten Nachrufes ab. Das klingt irgendwie nach „Schild und Schwert“ und nach getreuem SED-Eckart, und das ist auch beabsichtigt. Corino lässt grüßen. Die „Differenzierung“ ist – bei Lichte betrachtet – angewandte Hobby-Psychiatrie, Stichwort „Schizophrenie“. „Moralisch zweifelhaft, als Literat begnadet“ lautet der Untertitel des Textes in der ZEIT, in dem Jens Jessen Kant postum Referenz erweist. Jessen sei Gerechtigkeit widerfahren: Sein Text ist mitnichten so bescheuert, wie der offensichtlich redaktionell gewählte Titel suggeriert. Einer gewissen Barbara Möller blieb es in der WELT vorbehalten, mit einem Nachruf auf Hermann Kant tapfer auf den Boden des Mülleimers des Kalten deutschen Kultur-Krieges zu greifen: „Der auch vom Westen lange gefeierte Großschriftsteller der DDR. Dieser eine war ja der Beweis, dass die DDR-Literatur nicht nur Seghers-rot oder Strittmatter-grau sein konnte, sondern auch Kant-mokant.“ Solch Unsinn spricht eigentlich für sich. Frau Möller kam sich sicher sehr witzig – quasi an Kants Wortspielereien geschult – vor. Aber seien wir nicht ungerecht. Möller ist eine der wenigen, die andeutete, wo das tatsächliche Konfliktfeld lag und liegt: „Der frühe Arbeiter- und Bauernstaat […] war wie gemacht für einen wie ihn. Den Jungen aus Hamburg-Lurup, wo der Vater als Gärtner arbeitete und die Mutter in einer Fabrik. Wo nach der Volksschule Schluss war …“ Dem Sitte ging es ähnlich – und dem Helmut Flieg (er nannte sich erst im tschechoslowakischen Exil Stefan Heym) wollten die, die später in demokratischen West-Verhältnissen jahrzehntelang den Ton angaben, einst ans Leben.
Möller ist sprachlich allerdings unpräzise: Die DDR war nicht „wie gemacht für einen wie ihn“. Die DDR war genau für Leute wie ihn gemacht – den Elektriker, den Zimmermann, die Schneiderin, den Waldarbeiter … Es sollte der Staat der „kleinen Leute“ werden – und er war es auch lange Zeit. Wolfgang Engler wies einmal darauf hin, dass die SED-Führung nach dem 17. Juni 1953 alles tat, um nicht das Missfallen der Arbeiterklasse zu erregen. Das endete dreißig Jahre später in einem rasanten Sommerschlussverkauf all ihrer Werte, weil man den Wertebegriff zu vordergründig auf den Warenwert bezog … Da konnte man am Ende mit dem Westen nicht mehr mithalten. Mehr als drei Nägel waren beim Bäcker eben nicht drin. Kant hatte einst eine Laudatio auf die Potenziale dieses Ländchens geschrieben, „Die Aula“ (1965). Er registrierte wachen Auges, wie es mit ihm bergab ging: Die Erzählungsbände „Bronzezeit“ (1986) und eben „Der dritte Nagel“ (1981) legen darüber Zeugnis ab. Er hielt damit seinen regierenden Genossen einen Spiegel vor, den die nicht sehen wollten. „Dafür haben wir nicht gekämpft!“, schleuderte ein wutentbrannter Kurt Hager dem Plenum der Akademie der Künste entgegen, als die Sinn und Form wieder einmal aufgrund eines im Politbüro des SED-ZK übel aufgenommenen Heftes verboten werden sollte. Weshalb wird heute eigentlich vergessen, dass der kritische gesellschaftspolitische Diskurs in der DDR durchaus stattfand? Allerdings nicht da, wo er hingehört hätte, in den Medien, in den Parteien, Gewerkschaften, in Schulen und Betrieben. Die Künste waren sein Podium. Und die in dieser Frage wirkungsmächtigste war zweifelsohne die Literatur. Dass die Künste in der DDR diese Rolle spielen konnten, war auch Verbandsvorsitzenden wie Willi Sitte und eben Hermann Kant zu danken. Das festzustellen ist ein Gebot notwendiger Fairness.
Hermann Kants Werk ist durch die tagesaktuellen Spiegelfechtereien des Feuilletons nicht zu treffen. „Der Aufenthalt“ (1977) ist Weltliteratur. Der gleichfalls viel geschmähte Martin Luther hat es auf den Punkt gebracht: „Das Werk, das müssen sie lassen stan …“, meinte er einmal in einem seiner vielen Momente höchster Lebensangst. Nun wird Kant im Dichterhimmel wahrscheinlich die Luther-Wolke meiden. Er hockt eher auf jener, auf der sich Leute wie der Grimmelshausen, Günther und Heine, Tucholsky und wahrscheinlich auch der Heym herumlümmeln. Dort wird er das irdische Treiben seiner Nachrufer und Nachwerfer beobachten und amüsiert mit Lichtenberg über dessen Sentenz philosophieren, dass es nicht immer das Buch sei, das hohl klinge, wenn es mit einem Kopfe zusammenstoße. Das Ergebnis dieses philosophischen Disputs wird uns leider unzugänglich bleiben.
Schlagwörter: DDR-Literatur, Hermann Kant, Künstlerverbände, Willi Sitte, Wolfgang Brauer