von Wolfgang Brauer
Gemeinhin gelten die Briten als die Erfinder des modernen Tourismus: Nicht nur weil Baptistenprediger Thomas Cook 1841 die erste Pauschalreise organisierte – sie waren als Alleinreisende auch die Vorreiter in der Erkundung potenziell tourismusträchtiger Landstriche. Reisten Europäer vor der Mitte des 19. Jahrhunderts in „fremde Gegenden“, so war für die von ihnen „Entdeckten“ Vorsicht angesagt: Den Landkartenzeichnern und Landvermessern folgten meist die Geologen, in einigen Fällen „Kolonisten“ – deren Tätigkeitsfelder zumeist mit Pulver und Blei „pazifiziert“ wurde. Kontemplative Zwecke trieben die Wenigsten an.
Um 1850 änderte sich das. Die Welt war bis auf wenige Gegenden „entdeckt“ und mehr oder weniger zuverlässig vermessen. In diesen Jahrzehnten begann man dem zu frönen, was mit dem schönen Begriff „Reiselust“ umschrieben wird. Klaudia Ruschkowski und Susanne Gretter legten jetzt in der bei Erdmann erscheinenden Reihe „Die kühne Reisende“ geradezu ein Paradebeispiel dieser neuen Art des Reisens vor: Emily Lowes Bericht über ihre Italienreise in den Jahren 1857 und 1858. Der Titelkupfer zeigt uns das Porträt einer durchaus lebenslustigen Person, die mit Sicherheit das Herz auf dem rechten Fleck und nötigenfalls ebensoviele Haare auf den Zähnen wie auf dem prächtigen Schopf gehabt haben wird. Die Dame war 22 Jahre jung, als sie „unprotected“ – also ohne männliche Begleitung, „Schutz“ also – auf den Weg nach Sizilien und Kalabrien macht. Die Gegend war seinerzeit touristisch absolut unerschlossen. Ganz unprotected war man auch nicht, die Mama war immer dabei, also muss korrekterweise von „unprotected females“ die Rede sein: Fairerweise räumt Emily dies in ihrem Reisebericht auch ein. Und die „Schutzlosigkeit“ benutzen die Ladies durchaus als Mittel zum Zweck. „Wie erstaunlich ist es doch, dass die Leute, wenn Damen einen vollkommen hilflosen und unschuldigen Eindruck machen, sogleich in die Falle gehen und alles unternehmen, um ihnen zu Diensten zu sein“, zitiert die Herausgeberin den Bericht der Lowe über ihre ein Jahr zuvor erfolgte norwegische Reise. Hilfreich waren natürlich Empfehlungsschreiben von und an die diversen lokalen VIP’s, die den Damen Lowe so manche Tür öffneten.
Dennoch – das muss eingeräumt werden – war die Italienreise der beiden durchaus strapaziös und anders als zum Beispiel die Marokko-Tour der Edith Wharton mitunter auch recht gefährlich. Während ihres Aufenthaltes im kalabrischen Paola machten die Reste einer Räuberbande die Berge der Umgebung unsicher. 14 ihrer Gesellen waren kurz zuvor in Catanzaro erschossen worden. Entführungen und Überfälle waren derzeit auf den Straßen des Königreiches Neapel alltäglich. Die bewaffnete Begleitung der regulären Postkutschen erfolgte oft durch Herren, die in ihrer „Freizeit“ der gegenteiligen Beschäftigung nachzugehen schienen, wie die misstrauische Emily Lowe bemerkte.
Natürlich geschah den beiden nichts Arges, nimmt man den Verlust eines Kaschmir-Schals der Mama, den sich ein Wirt im neapolitanischen Terracina aneignete, nicht allzu schwer.
Ebenso quirlig, wie sie als Persönlichkeit gewesen sein muss, ist Emily Lowes Bericht geschrieben. Vor den Schönheiten der bereisten Landstriche macht sie brav ihren Kniefall. Die Schattenseiten verschweigt sie mitnichten. Vor allem treibt sie die Allgegenwart eines blutsaugerischen Klerus, der ganze Landstriche im Elend haltenden Unterdrückungspolitik Ferdinands II. (nach der Beschießung Messinas im Jahre 1849 wurde er auf Sizilien nur noch „Re Bomba“ genannt) immer wieder zu Zornesausbrüchen. Ihre Beschreibung der politischen Verhältnisse ist auch für heutige Leser aufschlussreich – und für Sizilien- und Kalabrienreisende, die sich jenseits des modernen Pauschaltourismus bewegen wollen, zum besseren Verständnis des Landes nützlich zu lesen. Die praktischen Ratschläge der jungen Reisenden sind inzwischen veraltet – „jede Dame sollte einen Führer und einen Maulesel bei sich haben“, ihre Mentalitätsstudien nicht unbedingt.
Emily Lowes Buch ist eine Liebeserklärung an die Insel, auch wenn sie die mitunter mit äußerst kritischem Blick sieht: „ein Land, dessen Regengüsse gleich zu Überschwemmungen führen, dessen Schönheit ausschließlich in seinen Farben besteht, dessen Reichtum der einer Wüste mit vereinzelten Oasen aus Palmen oder Aloe gleicht, deren Karawansereien jedes Quäntchen an Seelenstärke erfordern und die Abgerissenheit der Leute, die dort anzutreffen sind, kaum Sympathie und Mitleid, sondern Abscheu erregt“. Sie notierte dies irgendwo zwischen Caltanisetta und Agrigent. Agrigent ist Andrea Camilleris Montelusa aus den „Montalbano-Krimis“. Wer diese Landschaft und diese Bücher kennt, wird das bestätigen – und zugleich Emily Lowes Hymne auf Trinacria, das göttliche Sizilien, teilen: „Sizilien! Insel, die alles besitzt, die sich an nichts erfreut; wo das Füllhorn Elend über ein Land vergießt, das sich unter seinen gegenwärtigen Herrschern als ‚goldenes Juwel im Rüssel eines Schweines‘ erweist.“ Den Herausgeberinnen und dem Verlag ist für diesen glücklichen editorischen Griff zu danken.
Emily Lowe: Palermo, oh Palermo! Eine gewagte Reise durch Sizilien, Edition Erdmann, Wiesbaden 2016, 254 Seiten, 20,00 Euro.
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