19. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2016

Neo-Expressionismus

von Heino Bosselmann

Immer wieder Nasenbluten. Der Druck
ist nicht mehr regelbar beim Marsch
durch die Wachstumsgesellschaft.
Man hat die Nase, den Rotzlappen voll,
die alte, die rote Arbeiterfahne, handlich
im Format. Den Kragen hochgeschlagen,
unterwegs im aufgeladenen Expressionismus:
Außen Niesel, innen kocht der Saft, feuern
die Neuronen, drängt der Schrei. Und sie tanzt,
die Revolution. Ihre Fetzen fliegen, sie zeigt
ihre verdammt gesunden Brüste: Lauf ihr nach,
Gavroche, hol sie ein, noch vor der Barrikade.
(H. Bosselmann)

Als Leser war ich der Hoffnung, gegen unsere Epoche ideellen und intellektuellen Stillstands würde sich zwangsläufig eine Subkultur künstlerischen Widerstands als kulturelle Wendebestrebung etablieren. Täusche ich mich? Offenbar.
Während der ins dritten Jahrzehnt fortdauernden Restaurationsperiode, innerhalb der nur noch technische Phänomene und Gesundheitsprobleme interessant sind, fühlt sich die Literatur nicht zu einem Neo-Expressionismus herausgefordert, der gegen die bloßen Impressionen des Beliebigen sowie den Selfie-Narzissmus der Verklemmten und die tumbe Oralität des Wachstum-Konsums neuerlich Munchs „Schrei“ setzte oder eine „Menschheitsdämmerung“ wagte, wie sie Kurth Pinthus 1919/20 in seiner legendären Sammlung expressionistischer Lyrik protokollierte.
Was immer einst daraus wurde – zunächst formulierte sich ein kraftvoller Ansatz, den ich in der Gegenwartsliteratur vermisse. Der zivilisatorische Dreck wird allenfalls noch in der modernen amerikanischen Prosa gezeigt. Man lese bei Cormac McCarthy und dessen literarischem Umfeld nach. Zudem sind aktuelle Krimiserien selbst mit Blick auf das soziale Elend expressiver als die gängigen Romane über die Pflege eines belanglosen Individualismus derer, die es bis auf den Prenzlauer Berg geschafft haben.
Kurt Pinthus: „Die Jünglinge dieser Generation fanden sich in einer Zeit, aus der jedes Ethos geschwunden war. (…) Aber man fühlte immer deutlicher die Unmöglichkeit einer Menschheit, die sich ganz und gar abhängig gemacht hatte von ihrer eigenen Schöpfung, von ihrer Wissenschaft, von Technik, Statistik, Handel und Industrie, von einer erstarrten Gemeinschaftsordnung, bourgeoisen und konventionellen Bräuchen. Diese Erkenntnis bedeutet zugleich den Beginn des Kampfes gegen die Zeit und gegen ihre Realität. Man begann die Um-Wirklichkeit zur Un-Wirklichkeit aufzulösen, durch die Erscheinungen zum Wesen vorzudringen, im Ansturm des Geistes den Feind zu umarmen und zu vernichten, und versuchte zunächst, mit ironischer Überlegenheit sich der Umwelt zu erwehren, ihre Erscheinungen grotesk durcheinander zu würfeln.“
Diese Geschichte wiederholt sich zunächst nicht. Obwohl die damaligen Hintergründe den heutigen ähneln, registriert man kaum Erfrischendes. Heute wie damals steht Deutschland bombastisch da: Es „prosperiert“, es ist „Exportweltmeister“, es generiert sich als Vorbild für die Welt. Aber im Inneren diese Lähmung, die damals den Intellektuellen wachen Sinnes auffiel. Ähnlich in der „bleiernen Zeit“ der biederen Adenauer-Ära. Aber heute nirgendwo ein Autor, der sich an Brüchen versuchte wie weiland Hans Henny Jahnn, Arno Schmidt, Thomas Bernhard oder Thomas Brasch. Vielmehr erleben wir die Renaissance einer faden Variante des bürgerlichen Realismus oder bestenfalls die Nachahmung der großen Gegenwartserzähler Amerikas. Kein Zweifel, es wird hervorragend erzählt, auf ganz konventionelle Weise. Alles bleibt artig.
Es geschieht nichts. Selbst der Himmel wieder so widerlich blau und durchsonnt. Jeden Tag frohlockt der zum Event aufgeblasene Wetterbericht und verheißt, es werde noch schöner, während man sich endlich Nieselregen wünschte, frischen Wind, nordwestschottisches Klima. Aber nein: Der DAX stabil, keine Panzer aufgefahren, das Sterben wohl nach wie vor intensiv, aber immer anderswo. Irgendwo summt fiebernd die Krise, aber sie schlägt nicht durch. Irgendwelche Staats-, Verwaltungs- und Marktspezialisten verschieben sie auf Wiedervorlage; man spürt wenig von ihr, aber das gilt überhaupt vom Leben, das stoffwechselnd wohl stattfindet, allerdings leidenschaftsarm und mit sehr flachen Amplituden. – Mit dem Crash von Lehman Brothers 2008 hatte ich Hoffnung. Sie zerschlug sich. Wie langweilig doch.
Politisch ist alles in die Mitte gerückt und wärmt sich dort gegenseitig, so wie die Intellektuellen und Hipster auf den Freisitzen am Berliner Kollwitzplatz. Die Opposition befindet sich in Deckung mit der Regierung. Der große Frieden ist ausgebrochen, so wie früher die großen Kriege. Von Europa ist die Rede wie von einem Markenprodukt und die früher disparate Weltgemeinschaft mit wilden exotischen Besonderheiten, mit kaum überbrückbaren Distanzen zwischen Fremde und Nähe hat sich gleichgeschaltet unter der Flagge von Global-Playern versammelt. Es soll keine Unterschiede mehr geben, heißt es, also keine Diskriminierungen, und vor allem keine Spannungen, aus denen Lichtbögen schlagen könnten. Stattdessen Gerechtigkeitsrhetorik, große Transparenz und ein geradezu bedrohlich wirkender, gouvernantenhaft auftretender Moralismus, ethisch so wertvoll wie ph-neutral.
Die alles seligmachende Wirtschaft und die mit ihr verbundene digitalisierte Buchhalterei haben Mensch, Natur und Landschaft durchgerastert normiert; überständiger Wildwuchs, der sich nicht von den Rechenmaschinen erfassen, vermarkten und verwalten lässt, wird wegrationalisiert. Selbst das krumme Holz, aus dem laut Kant der Mensch gemacht ist, scheint IKEA-tauglich geworden. Zwischen Frieden und Wohlstand findet sich propagandistisch ein Gleichheitszeichen, um auf die politisch so empfundene Tautologie beider Begriffe hinzuweisen.
Wer noch nicht teilhat an der globalisierten Reproduktionsmaschinerie, der arme Somalier oder Nepalese etwa, ist aber motiviert von dem Wunsch, endlich zu dieser feisten Weltbürgerschaft des Verbrauchens aufzuschließen. Alle Radikalität endet, wenn man erst den Einkaufswagen durch den kunterbunten Super-Markt schieben darf. Mit dieser großen Zufriedenheit und der sie begleitenden Demokratie, mit der der Utilitarismus des Westens politische Gestalt gewann, enden offenbar alle Widersprüche, aus denen heraus früher provokante Kunst entstand.
Gerade die einst politisch operativ wirksamen Gattungen der Literatur, Dramatik und Lyrik, führen ein Nischendasein in den Kreisen miteinander verklüngelter Rest-Interessenten. Man vergleiche das mit dem turbulent entzündlichen Vormärz oder dem in grellsten Farben spiegelnden Spektrum der Literatur zur vorletzten Jahrhundertwende. Dabei liegt die Ahnung anstehender, vielleicht gar katastrophaler Veränderungen doch merklich schwül in der Luft. Man sage sich öfter mal Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“ auf, das Pinthus für die Kernbotschaft des Expressionismus galt: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei. / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.“
Bitte: Man zeige mir einen einzigen Text, in dem es pulst und blutvoll brodelt. Man weise mich auf einen wilden Einzelgänger hin, der jenseits der vergenossenschaftlichten Poetenladen-Lyrikszene das Besondere neu zu sagen versteht. Man benenne mir einen einzigen Autor, der, wenn schon nicht in der Zeit, dann mit wachem Sensorium an der Zeit wäre. Symptomatische Themen der gängigen und hoch ausgepreisten Gegenwartsliteratur sind – passend zur Demographie eines absterbenden Kontinents – vorzugsweise Krankheit, Siechtum und Tod. Wo es früher um Aufbruch ging, werden jetzt Alzheimersche Amnesie, Krebsschicksale, Organspenden und Sterbehilfe thematisiert.
Wo ist das Leben? Überall Projekte hinter Glas, pupsige Indoor-Veranstaltungen mit schickem Outfit in techniksterilen Locations, Prosecco statt scharfen Schnapses, überall Rauchverbote, nirgendwo Aufbruch ins Freie oder der Mut zur kalten kritischen Sicht.