von Wolfgang Schlott
Mehr als hundert Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Briefe Hans Paasches über die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara in das Land der Wasungu ist das Interesse an diesem schmalen Bändchen augenscheinlich ungebrochen. Zahlreiche Auflagen in unterschiedlichen Verlagen beweisen es. Worin besteht die außergewöhnliche Erzählerperspektive in den neun Briefen der vorliegenden Publikation? Es sind die Beobachtungen eines fiktiven Zeitzeugen, der auf Wunsch seines Königs Ruoma ins kaiserliche Deutsche Reich reiste, um seine visuellen Eindrücke von einer modernen, hochindustriellen und militarisierten Gesellschaft zu übermitteln. Sie bedienen sich dabei der satirisch-verfremdenden Sichtweise des deutschen Autors, einem Marineoffizier, der nach seinen Eindrücken von der grausamen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands in Ostafrika (1905/06) durch deutsche Kolonialtruppen zum Pazifisten wurde. Trotz seiner ethisch-moralischen Abkehr von der Gewalt meldet er sich 1914 freiwillig zum Militärdienst. Zwei Jahre später wird er wegen Befehlsverweigerung aus dem Dienst entlassen. In den folgenden Kriegsjahren verfolgt ihn die Reichsjustiz, weil er in Aufrufen und Schriften gegen die Fortführung des Kriegs protestiert. Im Herbst 1918 unterstützt er die streikenden Matrosen, kurz nach Kriegsende tritt er in die KPD ein und gerät immer mehr ins Visier der Reichswehr. Am 20. Mai 1920 wird er unter dem Vorwand, er würde auf seinem Gut „Waldfried“ jenseits der Oder, unweit des heutigen Krzyż Wielkopolski, Waffen verstecken, von einem Angehörigen des Reichswehr-Schutzregiments 4 heimtückisch ermordet.
Worin besteht der besondere Wert der Briefe des Lukanga? Nach Ansicht von Paasche legte der fremde Mann „an die Zustände in Deutschland seinen Maßstab. […] Seine Beobachtungsgabe und die Nacktheit seines Urteils bringen es mit sich, dass er bedeutend über Dinge sprechen kann, denen wir selbst gar nicht einmal unbefangen gegenüberstehen können.“ Und welche Urgestalt verbirgt sich hinter dem Erzähler? Laut Franziskus Hähnel, der das Vorwort zu dieser Ausgabe beisteuerte, sei es ein Negerbursche gewesen, „den Hans Paasche zur Bedienung hatte, als er seine Hochzeitsreise mit seiner Frau Ellen nach den Nilquellen machte.“ Auf dieser Reise verstärkt sich Paasches positiver Eindruck von seinen Gastgebern, die er als „kluges Negervolk“ bezeichnet. Zugleich verdichtet sich sein Widerwille gegenüber den „Kulturerrungenschaften“ seines eigenen Volkes. So klagt er im zweiten Brief über die schädlichen Auswirkungen der Industrialisierung, über den Rauch im Dunst, der in „langen, steinernen Röhren“ zum Himmel geleitet wird. Er beklagt, dass der Sungu (junger Mensch) einem Konsumzwang ausgesetzt sei, der ihn krank mache. Er macht sich lustig über den Kleiderzwang, dem die Wasungu ausgeliefert seien, und sehnt sich nach der Nacktheit seiner Artgenossen. Im fünften Brief macht er sich über die Wasungu lustig, weil sie statt essen nur schlucken: „… alles, was sie in den Mund hineintun, ist dazu vorbereitet, das es hinuntergeschluckt und nicht gegessen werde.“ Auch die Sauflust der Wasungu und ihre komischen Trinksitten verspottet er beim Besuch von Kneipen, in denen sich Studenten in schlagenden Verbindungen treffen .Er wundert darüber, dass sie sich dort Narben ins Gesicht schneiden, die sie auch noch schön finden würden. Ebenso komisch ist die Beschreibung des Rauchens in der Gesellschaft von Männern und Frauen. Zigaretten oder Zigarren sind Rauchrollen, die ganze Prozedur nennt sich Rauchstinken. Und das sei sehr schädlich, weil die Rauchstinker früher sterben, was auch für die Volkswirtschaft von Nachteil sei. Nur die Anwesenheit von Frauen könnte diese schädlichen Sitten eindämmen.
Besonders hinterlistig sind die Kommentare, die Hans Paasche immer dann in die enthüllenden Aussagen seines afrikanischen Erzählers einfügt, wenn dieser dem Leser unverständliche Begriffe zum Beispiel für die Saufrituale verwendet. Auf diese Weise erfährt der Text eine doppelte semantische Brechung, weil die Aufklärung des Lesers durch den Autor kontraproduktiv ist. Eine nicht minder listige und zugleich exotische Art einer afrikanischen Aufklärung wählte der Verleger, indem er Abbildungen afrikanischer Wandmalerei einer bibliophilen Sonderausgabe der Buchdruckerei Brüder Hartmann aus dem Jahre 1955 entnahm wie auch auf fünf weitere Quellen zu griff. Damit gelingt es ihm, gemeinsam mit der markanten Gestaltung des Umschlags (Susanne Burghardt), den authentischen Charakter eines Berichts aus der Feder eines afrikanischen Augenzeugens zu untermauern. Umso wichtiger ist deshalb auch die Kommentierung der widersprüchlichen Rezeption der Briefe in der deutschen Presselandschaft. Ihr sind die Beiträge von Iring Fetscher und Helmut Donat gewidmet, unter denen vor allem die grundlegende Auseinandersetzung des Verlegers und Publizisten mit der Bewertung der Briefdokumente in der Bundesrepublik Deutschland nach 1981 hervorzuheben ist.
Einen besonderen Akzent erhält die Würdigung des Werkes von Hans Paasche durch den Abdruck eines zehnten Briefes aus der Feder von Kamila Jaworska. Als Schülerin am Gymnasium in Krzyż Wielkopolski, also jenem Ort, in dessen Nähe Hans Paasche 1920 ermordet wurde, schreibt sie 2007 im Zuge der Wiederentdeckung der Werke und Taten des Pazifisten auch in Polen an den König Omukama. Mit dem Wissen einer aufgeklärten Fernsehkonsumentin beklagt sie das wirtschaftliche Elend in den Ländern der so genannten Dritten Welt und die Arroganz der Bewohner in den reichen Ländern. Ist damit die Botschaft des widerständigen Aufklärers Paasche in der Gegenwart angekommen? Im Prinzip ja, aber nur wenn der Leser, angeregt von den unermüdlichen Aktivitäten der Friedensbewegung, davon überzeugt wird, dass die Bemühungen von Sisyphus nicht umsonst sind.
Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschlands, Donat Verlag, Bremen 2016, 167 Seiten, 12,80 Euro.
Schlagwörter: Deutschland, Friedensbewegung, Hans Paasche, Wolfgang Schlott