von Edgar Benkwitz
Die Geschichte der internationalen Beziehungen ist reich mit Doktrinen gesegnet, besonders häufig tragen sie die Namen US-amerikanischer Präsidenten. Seit einigen Tagen muss auch der indische Premierminister Narendra Modi für eine derartige Namensgebung herhalten. Er weilte vom 8. bis 10. Juni in Washington, wo er neben den Gesprächen mit Präsident Barack Obama in einer Rede vor dem Kongress seine Vorstellungen über die künftige Rolle Indiens im internationalen Geschehen darlegte. Überraschend erklärte er, dass zwischen Indien und den USA eine gemeinsame Interessenlage bestehe und beide trotz gelegentlicher Differenzen ideale Partner seien. Sein Land habe endgültig die Ära der Vorbehalte gegenüber den USA überwunden, ein starkes Indien sei In deren strategischem Interesse. Verständlicherweise begeisterten diese Feststellungen die Gastgeber, denn sie signalisieren eine bedeutende Veränderung in der außenpolitischen Grundhaltung Indiens zugunsten der USA. Und schnell prägten Offizielle den Begriff der „Modi-Doktrin“!
Die spürbare Belebung der indisch-amerikanischen Beziehungen, die in Modis USA-Besuch ihren vorläufigen Höhepunkt fand, setzte mit dessen Amtsantritt als Premierminister vor zwei Jahren ein. Mit seiner nationalistisch ausgerichteten Regierung will er Indien endgültig als Großmacht etablieren. Entsprechende Anstrengungen unterschiedlichster indischer Regierungen in der Vergangenheit – wie die Entwicklung von Kernwaffen und Interkontinental-Raketen – brachten nicht den ersehnten Durchbruch. Indien blieb vielmehr in internen und regionalen Problemen stecken, Sanktionen wegen der Kernwaffenversuche waren eine zusätzliche Belastung. Nun soll mit der Orientierung auf die USA deren ökonomische, wissenschaftlich-technische und militärische Stärke sowie die politische Unterstützung genutzt werden, um den angestrebten Platz in der Welt zu sichern. Die Obama-Regierung wiederum setzt darauf, dass der die indische Politik bestimmende starke Nationalismus ein geeigneter Ansatzpunkt ist, um USA-Interessen langfristig durchzusetzen.
Künftig wird es eine besonders enge Zusammenarbeit auf den Gebieten Rüstung und Verteidigung geben. Die USA haben schon im letzten Jahr Russland als den größten Lieferanten militärischer Ausrüstungen abgelöst. Nun hat Indien auch seine bisher streng geschützte Verteidigungsindustrie für das Auslandskapital geöffnet, Beteiligungen mit bis zu 100 Prozent Fremdkapital sind möglich. Und Washington stufte während des Modi-Besuchs Indien als „Major Defence Partner“ ein. Wie Verbündete und enge Partner erhält es damit eine Vorzugsrolle bei Genehmigung und Lieferung von Rüstungsgütern und -technologien. Ziel ist laut USA-Offiziellen, Indien bei der „Stärkung der Kapazitäten zum Schutz seiner Interessen“ zu helfen – nicht nur in der Region, auch im asiatisch-pazifischen Raum und im Indischen Ozean. Auch eine Mitgliedschaft Indiens in internationalen Rüstungskontrollgremien soll erreicht werden.
Brisant ist der ersehnte Zugang zur Nuclear Suppliers Group (Kernmaterial-Lieferländer), eine heute 48 Staaten umfassende Organisation, die als Reaktion auf Indiens erste Kernexplosion (1974) ins Leben gerufen wurde. Trotz großer diplomatischer Bemühungen der beiden neuen Partner wurde Indiens Aufnahmeantrag auf der Jahrestagung dieser Gruppe, vor allem auf Drängen Chinas, nicht stattgegeben. Indien ist nicht Mitglied des Kernwaffen-Sperrvertrages, so war es für China mit seinen geopolitischen Interessen nicht schwer, Indien weiterhin einen umfassenden Zugang zu Technologien und Materialien für seinen Nuklearsektor zu verwehren. Es muss nun weiterhin mit Ausnahmeregelungen und bilateralen Verträgen leben, Vorbehalte in Bezug auf sein Nuklearprogramm bleiben bestehen. Dagegen wurde Indien vor wenigen Tagen in das Raketentechnologie-Kontrollregime aufgenommen – durch Konsens, China ist hier nicht Mitglied.
Narendra Modi ist das taktische Gespür zuzuschreiben, sein Land gerade jetzt den USA zu öffnen. Präsident Obama war in den letzten beiden Jahren der häufigste Gesprächspartner Modis auf höchster Ebene und so galt es, die Ergebnisse der vielen Beratungen noch vor dem Amtswechsel im Weißen Haus festzuschreiben. Modi erhofft sich davon kräftige Impulse für die Modernisierung seines Landes auf allen Gebieten. Nur so – entsprechend der nationalistischen Logik – können der Einfluss Indiens in der asiatischen Region vertieft, das störende und destruktive Handeln Pakistans neutralisiert und der große Nachbar China zu einem konstruktiven Miteinander bewegt werden. Ein gestärktes Indien würde wiederum den Bestrebungen der USA entgegenkommen, ihren Einfluss in der asiatischen Region langfristig zu sichern und China entgegenzutreten.
Doch dieses Vorgehen wirft Fragen auf und birgt Risiken. So wird das Kräfteverhältnis in der Region maßgeblich beeinflusst, was Indiens Gegenspieler nicht hinnehmen werden. Schon meldet sich Pakistan, dessen Außenminister Sorge über die „wachsenden strategischen Verbindungen“ zwischen den USA und Indien ausdrückte. Und in der Tat müssen die USA bei der Stärkung Indiens immer auch die Lage in Pakistan im Blick haben. Ein atomwaffenbesitzender Staat, der zugleich Heimstatt terroristischer Aktivitäten ist – zu groß ist die Gefahr für die fragile Stabilität in Pakistan selbst und die Region.
Und wie wird China auf ein verstärktes Engagement der US-Amerikaner in seiner Nachbarschaft reagieren? Werden chinesische Interessen und Ansprüche bedroht, so hat China noch immer Mittel gegen Indien in der Hand. Sein „Allwetterfreund“ Pakistan mit seiner permanent destruktiven Haltung gegenüber Indien könnte dabei eine Rolle spielen. Auch die ungelösten Territorial- und Grenzfragen zwischen Indien und China, bei denen letzteres am längeren Hebel sitzt, könnten wieder ins Spiel kommen.
In Indien selbst sind Probleme für Narendra Modi und seine regierende hindunationalistische Indische Volkspartei nicht ausgeschlossen. Zwar gibt es im gesamtnationalen Maßstab keine nennenswerte Opposition, die dem vorgesehenen Kurs ernsthaft entgegentreten könnte, aber eine schnelle Modernisierung des Landes ruft unweigerlich den Hindufundamentalismus und -chauvinismus auf den Plan. Er ist schon im unmittelbaren Umkreis Modis zu finden, hat in Indien starke Wurzeln und sieht seine Ideologie und seine Lebensformen durch jegliche Modernisierung und jeden Fortschritt bedroht.
In den USA fährt Präsident Obama mit der „Modi-Doktrin“ einen späten Erfolg ein, den selbst seine Gegner anerkennen. „Die indische Regierung wird Amerikas großer Verbündeter sein“, verkündete überschwänglich Paul Ryan, einflussreicher Republikaner und Sprecher des Senats. Und die New York Times bezeichnet das vereinbarte künftige Zusammengehen der USA mit Indien als eines der bedeutendsten außenpolitischen Errungenschaften des Präsidenten.
In der Mitte seiner Amtszeit hat Premier Modi mit den Vereinbarungen von Washington seine Stellung gestärkt, sein Ansehen ist vor allem in der westlich orientierten Elite des Landes gestiegen. Er öffnet Indien weiter für die dringend benötigte wirtschaftliche und technologische Modernisierung. Bezahlt hat er dafür vorerst mit dem Verkauf der geostrategischen Lage seines Landes im großen Kräftemessen in Asien. Doch wird das nicht der Eigenständigkeit des Landes schaden, die bisher wie ein Augapfel gehütet wurde? Oder ist es tatsächlich der von vielen ersehnte neue Aufbruch? Letztere Meinung vertritt die Times of India, die in der Außenpolitik der neuen Regierung eine Abkehr von bisherigen traditionellen Auffassungen sieht. Sie bescheinigt Modi ein neues Herangehen im internationalen Geschehen, das sich durch Selbstbewusstsein, Pragmatismus und das Beharren auf Reziprozität auszeichnet. „Indien stellt sich als eine Gelegenheit dar, und es sucht selbst Gelegenheiten (…) Indien (hat) unter Modi entschlossene Schritte weg vom Dritte-Welt-Denken und -Handeln unternommen“, schrieb die Zeitung.
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