von Ulrich Busch
Jetzt, wo das Fußball-Spektakel vorüber ist, rücken – Gott sei Dank – auch wieder ernstere Themen in den Blick: An vorderster Stelle der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der Brexit. Nachdem klargestellt wurde, dass das britische Austrittsvotum, so knapp es auch ausgefallen ist, ernst genommen werden muss und es kein Zurück zu der Zeit vor dem 23. Juni geben wird, beschäftigen sich die dafür zuständigen Politiker mit den Modalitäten und dem Procedere dieses Austritts. Auf konkrete Entscheidungen und Beschlüsse werden wir aber wohl bis 2018 warten müssen. Eine derart wichtige Angelegenheit lässt sich nun mal nicht übers Knie brechen.
Die Wirtschaft hat indes bereits ihre Meinung kundgetan, in Gestalt einer drastischen Abwertung der britischen Währung, fallender Aktienkurse und Immobilienpreise, eines steigenden Goldpreises, sinkender Investitionsbereitschaft, nachlassender ökonomischer Dynamik und allgemeiner Verunsicherung. Und das keinesfalls nur in Großbritannien! Egal, wohin man schaut, auf die Banken, die Finanzmärkte, den Unternehmenssektor, die Staatshaushalte, den Arbeitsmarkt oder den privaten Konsum, überall wird deutlich, dass der Brexit der Wirtschaft in hohem Maße schadet. Jetzt schon und in Zukunft noch viel mehr. Einige Folgen sind jedoch widersprüchlicher Natur, so dass der Brexit bei einer einseitigen Betrachtung auch positiv ausgelegt werden kann. Dies hatte sich Boris Johnson, der lauteste Fürsprecher desselben, in seiner Austrittskampagne zunutze gemacht. Und er hatte Erfolg damit.
Im Nachhinein jedoch offenbart sich die Dialektik wirtschaftlicher Prozesse, wodurch seine Argumente faktisch über Nacht an Überzeugungskraft verloren. Im Einzelnen zeigt sich dies wie folgt: Die Abwertung des britischen Pfundes ist zwar für die britische Exportindustrie und den Tourismus von Vorteil. Sie bedeutet aber auch einen Vermögensverlust des Landes, ausgedrückt in ausländischer Währung, und eine Herabstufung der Bonität und Kreditwürdigkeit Großbritanniens. Diese erfolgte prompt: Das bisher, seit einem halben Jahrhundert, geltende Triple-A-Rating (AAA) ist nun passé. Einige Agenturen stuften Großbritannien sogar gleich um zwei Stufen herab, auf nur noch AA. Der Absturz der Aktienkurse am 24. Juni und teilweise darüber hinaus signalisiert den relativen Niedergang der britischen Wirtschaft und das wahrscheinliche Hineinschlittern der Volkswirtschaft in eine Rezession. Besonders hart waren Bankaktien und Finanztitel betroffen, ein Bereich also, der für Großbritannien von außerordentlicher Bedeutung ist. Wenn jemand davon profitieren sollte, dann Frankfurt am Main oder Paris. Bis dies aber sichtbar wird, verzeichnen alle Finanzplätze erst einmal kräftige Verluste.
Nicht weniger stark ist der Einbruch bei den Investitionen. Unternehmer und Investoren wissen heute nicht, welche Auswirkungen der Brexit auf ihre Geschäfte in der Zukunft haben wird. Folglich halten sie sich zurück und verschieben ihre Investitionsentscheidungen. Infolgedessen vermindert sich das Wachstum, geht die Beschäftigung zurück und sinken Einkommen und Konsum. Dahinter lauert das Gespenst der Rezession, wovon nicht nur Großbritannien und Europa, sondern die Weltwirtschaft insgesamt betroffen sein wird. Dem ist beim besten Willen nichts Positives abzugewinnen.
Als wichtiges Kriterium für den gemeinsamen Markt gilt die Freizügigkeit beim Güter-, Kapital- und Personenverkehr. Dies schließt den ungehinderten Zugang ausländischer Arbeitskräfte zum Arbeitsmarkt innerhalb der Europäischen Union ein. Großbritannien glaubt nun, mit dem Austritt das Angebot ausländischer Arbeitskräfte auf seinem Arbeitsmarkt einschränken, den Export britischer Waren auf den europäischen Binnenmarkt aber aufrechterhalten zu können. Das genau wird von der EU nicht akzeptiert werden. Mit dem gemeinsamen Binnenmarkt würde die britische Wirtschaft einen Absatzmarkt von enormem Gewicht verlieren. Dies gilt nicht nur für Industrieprodukte, sondern auch für die vom Umfang her viel bedeutsameren Finanzdienstleistungen. Bisher gilt die Regelung, dass Banken und Finanzdienstleister, die am Finanzplatz London zugelassen sind, von dort aus problemlos Geschäfte mit Kunden in der gesamten Union tätigen können. Nach dem Brexit wird es damit vorbei sein: Banken müssten jetzt in die Staaten, in denen sie tätig sein wollen, umziehen und bräuchten für ihre Geschäfte im Ausland jeweils eine gesonderte Lizenz. Die bürokratischen Hürden, die man an Brüssel kritisiert, würden dadurch, da nun vervielfacht, nicht kleiner, sondern noch um Einiges größer werden.
Experten vermuten auch, dass sich die Tendenz zur wirtschaftlichen Stagnation infolge des Brexit in allen EU-Ländern weiter ausprägen wird. Folglich wird auch das „Zinstief“ anhalten und werden noch auf lange Sicht Negativzinsen das Bild an den Finanzmärkten bestimmen. Hinzu kommt der Stimmungsumschwung: Mario Vargas Llosa spricht von einer „Resignationsfalle“, in welcher sich die Europäische Union seit dem Brexit befindet.
Schon allein diese wenigen Punkte machen deutlich, welch ein Rückschritt die Entscheidung Großbritanniens für Europa bedeutet. Zugleich wird auch evident, dass der wirtschaftliche Schaden, der hierdurch für das Land und für Europa entsteht, immens ist. In der Süddeutschen Zeitung vom 27.06 war zu lesen: „Das Versprechen, der Austritt werde der Wirtschaft nutzen, ist also ein Witz. Aber ein sehr böser.“ Das ist wahr! Bei näherer Prüfung bleibt fast nichts davon übrig. Aber die Lektion, die Europa damit erteilt wurde, geht noch viel weiter: Das britische Votum ist auch Anlass, über Volksentscheide dieser Größenordnung neu nachzudenken. Um eine Jahrhundertentscheidung wie die über den Austritt Großbritannien aus der Europäischen Union verantwortungsbewusst treffen zu können, bedarf es umfassender Informationen, ökonomischer Kompetenz und politischer Weitsicht. Hört und liest man die Meinungen der zur Stimmabgabe Berechtigten dazu, so scheinen diese Voraussetzungen mehrheitlich kaum gegeben zu sein. Wenn dies alles aber fehlt, die Information, die Kompetenz und die Weitsicht, was ist dann von der Souveränität des Volkes in dieser Frage zu halten? Insbesondere dann, wenn ein paar Tausend Stimmen und damit der Zufall über das Schicksal eines ganzen Landes entscheiden. Das Parlament darf das Votum des Volkes nicht ignorieren und die Regierung muss ihm selbst wider besseren Wissens Folge leisten. Aber ist das, was dabei letztlich herauskommt, wirklich die beste Lösung? Das ist eine für eine demokratische Ordnung wahrlich schwer zu beantwortende Frage.
Schlagwörter: Brexit, Europäische Union, Geldwirtschaft, Großbritannien, Ulrich Busch, Volksentscheid