19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Es geht um Europa und den gemeinsamen Wirtschaftsraum!

von Wolfgang Büchele

Das Jahr 2016 ist ein Schicksalsjahr für die Europäische Union und könnte die Arbeitsbedingungen der deutschen Wirtschaft und der Mitgliedsunternehmen des Ost-Ausschusses nachhaltig prägen.
Am 23. Juni 2016 stimmen 50 Millionen wahlberechtigte Briten über den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union ab – eine Abstimmung mit erheblicher Sprengkraft. Denn ein Austritt Großbritanniens würde nicht nur die Stabilität innerhalb der EU gefährden. Er könnte auch einen Dominoeffekt auslösen und das EU-Projekt insgesamt in Frage stellen. Und selbst wenn die Briten sich mit knapper Mehrheit für einen Verbleib entscheiden sollten – die kommenden Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre, werden für Brüssel kaum einfacher werden „Wenn wir in einem Jahr noch die EU haben, wie wir sie kennen, dann haben wir viel erreicht“, brachte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier die Befürchtungen auf den Punkt.
Ebenfalls im Westen liegen die Niederlande. Und auch von dort gab es dunkle Vorboten für das, was auf die EU in diesem Jahr noch zukommt. Die Abstimmung am 6. April 2016 gegen die Umsetzung des EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine verlief jedenfalls anders, als sich das viele gewünscht hätten. Und obwohl EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Vorfeld vor einer „kontinentalen Krise“ im Falle eines niederländischen Neins gewarnt hatte – am Ende setzen sich die EU-Skeptiker mit über 60 Prozent der abgegebenen Stimmen durch.
Auch die stetigen Stimmengewinne von EU-skeptischen Parteien in vielen wichtigen Ländern Europas gehören zu den negativen Vorzeichen, mit denen die EU derzeit zu kämpfen hat: von Frankreich und Dänemark über Ungarn und Österreich bis Polen. Selbst die deutsche Bevölkerung scheint sich – laut aktueller Umfragen – zunehmend aus dem Lager der unbedingten EU-Befürworter zu verabschieden. Das alles bedeutet: Die Zustimmung zum Projekt Europa sinkt. Angesichts populistischer Strömungen scheinen der EU die Europäer auszugehen.
Angesichts der Euro-, Griechenland- und Flüchtlings-Krise sowie der Terror-Gefahr betrachten viele Menschen die EU im 60. Jahr ihrer Gründung nicht mehr als Problemlöser sondern eher als Problemverursacher. Europäische Solidarität droht zum Auslaufmodell zu werden. Der Irrglaube, dass Brüssel an Einfluss verlieren muss und nur noch nationale Lösungen helfen können, gewinnt an Zustimmung.
Dabei bieten die EU und ihr Binnenmarkt aus 28 Ländern verglichen mit vielen Teilen der Welt weiterhin die besten Voraussetzungen für wirtschaftliche Stabilität, Prosperität und Entwicklungschancen. 2015 erreichte Deutschland einen Anteil von 3,4 Prozent am globalen Bruttoinlandsprodukt; Großbritannien lag als zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU bei 2,4 Prozent. Aber nur alle EU-Länder gemeinsam bringen mit einem Anteil von 17 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (kaufkraftbereinigte Zahlen) genug Gewicht auf die Waage, um mit Schwergewichten wie China (17,2 Prozent) und den USA (15,9 Prozent) mithalten zu können.
Hinzu kommt: Während alle anderen Kontinente ein Bevölkerungswachstum zu verzeichnen haben, befindet sich der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung trotz der jüngsten Zuwanderungswelle im stetigen Rückgang. 500 Millionen EU-Bürger stehen aktuell noch für sieben Prozent der Weltbevölkerung. Bis 2050 wird ihr Anteil auf fünf Prozent gesunken sein, gleichzeitig leben mehr als 60 Prozent der Weltbevölkerung in Asien. Nur mit mehr und nicht mit weniger Gemeinsamkeit werden wir Europäer deshalb noch genug Einfluss behalten, um die Globalisierung mitgestalten zu können.
Es gehört zur Tragik des europäischen Projektes, dass von außen betrachtet die großen Errungenschaften offenbar leichter zu erkennen sind als von innen. Die meisten Menschen in den Ländern, die am östlichen Rand der Europäischen Union leben, müssen von der europäischen Vision nicht überzeugt werden. Sie glauben mehr als die meisten EU-Bürger an diese Vision, weil sie die Bedrohungen und Risiken aus der jüngsten Geschichte noch vor Augen haben. Deshalb arbeiten Länder wie Serbien, Albanien, Montenegro, die Ukraine oder Georgien weiter daran, sich den EU-Standards anzunähern.
In vielen Bereichen – auch aus manch russischer Sicht – gilt die EU mit ihren Standards weiterhin als Vorbild. Die in Moskau seit 2012 entstandene Eurasische Kommission orientiert sich in ihren Strukturen sogar ausdrücklich am EU-Modell. Und die Aussicht auf eine Annäherung an die EU hat viele Länder zu dringend notwendigen Wirtschaftsreformen bewegt. Gleichzeitig wachsen die Sorgen: Eine EU, die wegen interner Probleme auf Distanz zu möglichen Partnern geht, die die Bedingungen für Zusammenarbeit verschärft und gleichzeitig selbst immer weniger gefestigt erscheint, verliert als Partner und Vorbild an Attraktivität. Diese Befürchtungen treiben auch deutsche Unternehmen um, die sich im östlichen Europa, im Südkaukasus und in Zentralasien engagieren.
Für das Projekt der europäischen Einigung wird gelegentlich das Bild eines Fahrrads bemüht, das nur stabil fährt, solange es in Bewegung bleibt. Was Russland angeht, wurde es schon lange vor dem Konflikt in der Ukraine vernachlässigt, in die Pedale zu treten und für mehr Zusammenarbeit und Stabilität zu sorgen. Und bis heute fehlt in Brüssel aus meiner Sicht eine überzeugende Strategie, wie die EU-Russlandbeziehungen wieder in Schwung gebracht werden können.
Vor allem in der Ukraine-Krise der vergangenen zweieinhalb Jahre hat die EU nicht immer eine gute Figur abgegeben. Brüssel hat in der Ukraine gerade auch wirtschaftliche Erwartungen geweckt, die in der Konfrontation mit Russland kaum erfüllt werden können. Der politische Dialog mit Russland riss schon vor der Einführung gegenseitiger Sanktionen immer mehr ab – mit allen negativen Folgen, insbesondere auch für die Ukraine. Die mühsame Bewältigung der Krise hat dann bezeichnenderweise nicht etwa die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini übernommen. Der Dialog verlagerte sich fast zwangsläufig auf die bilaterale Ebene: insbesondere auf Berlin und Paris.
Erwartungen aus Brüssel an Russland gab und gibt es viele. Sie werden auch heute fast täglich formuliert. Die Offenheit für russische Vorschläge hingegen war und ist nur gering ausgeprägt. Symptomatisch dafür war lange die fehlende Bereitschaft der EU-Kommission, einen Wirtschaftsdialog mit der Eurasischen Wirtschaftskommission in Moskau aufzunehmen. Diese Kommission koordiniert die Handelspolitik von Russland und vier weiteren Ländern zentral – immerhin ein entstehender Binnenmarkt mit zusammen 170 Millionen Menschen. Dieser Markt wiederum ist gerade auch für Länder wie die Ukraine, Moldau oder Georgien, die sich stärker an der EU orientieren, von hoher Bedeutung. Ein stetiger Austausch über einen Abgleich von Standards zwischen EU und Eurasischer Kommission drängt sich daher geradezu auf.
Erst im April 2016 hat die EU wieder eine Weltkarte zu EU-Freihandelsabkommen veröffentlicht. Sie zeigt diejenigen Länder und Regionen, mit denen es bereits EU-Freihandelsabkommen gibt oder mit denen die EU in nächster Zeit Verhandlungen aufnehmen möchte. Zwei große weiße Flecken fallen auf dieser Karte auf: Zum einen Grönland und zum anderen der gesamte Eurasische Raum von der Ostgrenze Polens bis hin nach Wladiwostok – und damit ausgerechnet eine Region, die sich in nächster Nähe zur EU befindet.
Bereits seit dem ersten east forum Berlin im Jahr 2013 wirbt der Ost-Ausschuss für einen Dialog zwischen der EU-Kommission in Brüssel und der Eurasischen Wirtschaftskommission in Moskau. Uns geht es dabei vor allem um gegenseitige Handelserleichterungen und gemeinsame Standards als erste Schritte hin zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum – und bei diesen Bemühungen lassen wir nicht nach. Im April 2016 fand das east forum Berlin, das wir gemeinsam mit der UniCredit und der Metro GROUP organisieren, bereits zum vierten Mal statt. Und auch diesmal haben wir ebenso wie die anwesenden Regierungs- und Unternehmensvertreter aus Ländern wie Russland, Armenien oder Moldau für einen solchen Dialog plädiert.
Die Bundesregierung muss von diesem Dialogansatz schon lange nicht mehr überzeugt werden. Die Stellungnahmen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, in denen sie sich für einen „gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“ aussprechen, sind zahlreich. Es besteht die Hoffnung, dass über den wirtschaftlichen Dialog auch ein Prozess zu einer politischen Wiederannäherung nach der Ukraine-Krise angestoßen werden kann.
Es gibt keine Alternative dazu, dass die EU und Russland neues Vertrauen aufbauen. Beide müssen sich wieder verstärkt als Partner verstehen. Nur so lassen sich die Ukraine-Krise dauerhaft lösen, die für alle (inklusive der Ukraine) schädlichen Wirtschaftssanktionen überwinden und damit die Wirtschaftsaussichten für das östliche Europa wieder aufhellen.
Osteuropa bis hin nach Zentralasien ist und bleibt ein großer Chancenraum für die deutsche und europäische Wirtschaft – ein Raum voller Möglichkeiten, an deren Realisierung weiter zu arbeiten sein wird. Und Russland ist und bleibt ein Teil von Europa, genau wie die Ukraine, Belarus oder wie die 28 EU-Länder – dies ist meine feste Überzeugung.
Die exportorientierte deutsche Wirtschaft ist wie keine andere in Europa auf funktionierende Handelsbeziehungen und sichere Investitionsbedingungen angewiesen. Der Ost-Ausschuss wird daher auch weiterhin dabei helfen, eine Verbesserung von Rahmenbedingungen zu erreichen und Unternehmensprojekte zu flankieren. Und er wird dies genauso entschlossen tun, wie er dies in den vergangenen 64 Jahren seit seiner Gründung praktiziert hat.
Wir wissen, welchen Wert Europa hat, wir kennen die Stärken und spüren die Schwächen. Vor allem sehen wir die Gefahren, die ein Scheitern der EU mit sich bringen würde und wissen zugleich um die großen Chancen, die in der Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses liegen. Aus unserer Sicht gibt es zu diesem Prozess keine Alternative. Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, dass Europa auch das Schicksalsjahr 2016 in guter Erinnerung behält!

Dr. Wolfgang Büchele ist Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

Auszug aus dem Vorwort des soeben erschienen Mittel- und Osteuropa-Jahrbuchs 2016 (OWC-Verlag). Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Ost-Ausschusses.