von Petra Erler
Weltweit waren 2013 rund 51 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Terror und Gewalt. 33,7 Millionen davon irrten in ihre Heimat umher, 16,3 Millionen flohen aus ihren Ländern. Hinzu kamen 1,2 Millionen Asylbewerber. Syrien, bisher zweitgrößtes Aufnahmeland von Flüchtlingen, wurde 2013 zum zweitgrößten Herkunftsland. Die meisten derjenigen, die außerhalb ihrer Heimat Zuflucht suchen, wurden von Entwicklungsländern aufgenommen (86 Prozent); rund 42 Prozent der Flüchtlinge von Ländern mit einem pro-Kopf-Einkommen von unter 5.000 US-Dollar im Jahr.
2014 schwoll die Zahl der Flüchtlinge weltweit weiter an und summierte sich nunmehr auf über 59 Millionen Menschen. Vor allem die Kriege in Afghanistan und Syrien haben die Flüchtlingszahlen erneut in die Höhe getrieben. Und die Ereignisse in der Ukraine.
Über die Hälfte aller weltweit in die Flucht getriebenen Menschen sind Kinder. Aber wie betrachten wir diejenigen auf der Flucht? Sind sie Bittsteller vor den Toren anderer Staaten? Oder ist es ihr elementares Recht, Schutz und eine Zukunft zu wollen? Sorry, aber nicht bei uns, lautet die Antwort der Australier, die Flüchtlingsboote einfach abweisen. Sollen sie doch auf dem Meer herumgondeln, bis sich einer erbarmt. Und niemand in der sogenannten freien westlichen Welt hat den Australiern dafür die rote Karte gezeigt.
Die australische Haltung ist im Übrigen so verschieden nicht von manchen hiesigen Kommentaren, die die heutigen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien lieber im Mittelmeer ersaufen sehen, als zu uns hindrängend. Sie ist auch nicht so verschieden von der Debatte, ob und wann unser Boot nun voll ist („Obergrenze“). Das Boot der Welt ist voller Flüchtlinge und die „Last“, über die wir gerne schwafeln, tragen andere als wir.
In der Flüchtlingsdebatte bemerkt man, wie doppelzüngig unser Verständnis der Menschenrechte ist. Wir werden zu erbitterten Gegnern einiger Staaten, die Menschenrechte mit Füßen treten. Da sind wir besorgt wegen mangelnder Freiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit, wegen Rassismus und Diskriminierung und, und, und. Das ist alles gut und schön und richtig. Gegenüber uns selbst und unseren Verbündeten in der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft jedoch sind wir nachsichtig bis blind. Die heutige große humanitäre Katastrophe hat Ursachen, in die wir verwickelt sind.
Am liebsten aber vergessen wir, dass den universellen Menschenrechten in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen eines allen anderen vorangestellt ist, das da lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Danach ist es völlig unerheblich, welcher Nationalität oder welchen Glaubens jemand ist. Aber auch nach dem Ende des Kalten Krieges scheint es so, als ob wir besser mit dem Bild des Feindes, des Fremden klarkommen, als mit dem Bild des Bruders, um den man sich schützend sorgt. Warum sonst führen wir in Deutschland eine so jämmerliche Debatte, ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder wie viele Moslems unser Land verträgt? Als wäre die Religion das entscheidende Kriterium für das Zusammenleben von Menschen und nicht die Frage, ob wir uns alle gemeinsam auf die universalen Menschenrechte, auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einigen verstehen.
Wo ist der Unterschied zwischen dem Slogan „Wir sind nicht das Weltsozialamt“ und der etwas eleganteren Formulierung „in dem Bemühen, möglichst vielen helfen zu wollen, nicht allen helfen zu können“ (Bundespräsident Gauck)? Allen? Die wenigsten klopfen überhaupt an unsere Tür. Und „möglichst vielen“ ist so schön ungenau, dass sich darunter jeder etwas vorstellen kann – von eins bis x zusagen. Erneut ist es eine abstrakte Debatte jener Art, auf die wir Deutschen uns ja so trefflich verstehen. Das erspart uns die Beschäftigung mit den wirklich schwierigen Dingen, wie zum Beispiel mit der Frage, warum ein Nest im Sächsischen, mit 170 Einwohnern, ohne Busverbindung und Einkaufsmöglichkeiten, dem man 2014 50 Flüchtlinge in den Ort setzen wollte, und dass von Pontius zu Pilatus rannte, um diese Zahl auf 30 zu verkürzen, amtsschimmelmäßig ablehnende Briefe erhielt, in denen von „Willkommenskultur“ geschwafelt wurde. Die Hälfte der Einwohner marschierte dann bei Pegida mit, voller Wut. Ich empfand den Vorschlag dieses Nestes, „nur“ 30 Menschen aufzunehmen, als großzügig. Hochgerechnet auf ganz Deutschland, hätten alle in Syrien obdachlos gewordenen Menschen bei uns locker eine neue Bleibe. Aber so läuft das ja nicht, schon gar nicht, wenn der Amtsschimmel wiehert. Und wenn sich Politik vor allem mit sich selbst beschäftigt.
Seit Charlie Hebdo sind wir alle irgendwas: Je suis Charlie, je reste Charlie. Je suis was auch immer. Ist doch bemerkenswert, dass der Tod des kleinen Aylan im September 2015, der an Europas Küste gespült wurde, nur eine kurze politische und mediale Aufmerksamkeitsspanne hatte. Kein Wunder, dass das Geschrei derer, die da meinen, selber schuld, was stopfen die auch ihre Kinder in Schleuserboote, nicht zu überhören war.
Nein, es sind nicht Flüchtlinge, die Deutschland und die EU in die Krise stürzen. Sie bringen nur zum Vorschein, wie weit sich die EU von ihrer eigentlichen Existenzgrundlage, der Friedensstiftung zwischen den Völkern, längst entfernt hat. Sie hellen nur auf, dass unter unserer Zivilisationsschicht die Barbarei lauert, dass es ethnische Arroganz und Intoleranz gibt, die höchst lebendig in unseren Gesellschaften brodeln und ein Ventil suchen. Dass der Wertekompass scharf ausschlagen kann, wenn Unsicherheit und Ängste um sich greifen. Und dass man dann aufrecht stehen muss, in solchen Zeiten, gerade in solchen Zeiten.
Schlagwörter: Europäische Union, Flucht, Flüchtlinge, Krise, Petra Erler