von Gabriele Muthesius
Während der gesamten Zeit des Kalten Krieges bis 1989 ist es nie gelungen, die Frage schlüssig zu beantworten, wie eine Eskalation bis zum allgemeinen thermonuklearen Schlagabtausch und damit bis zur Vernichtung der menschlichen Zivilisation in ihrer heutige Gestalt zu verhindern wäre, sollte es in einem direkten militärischen Konflikt zwischen den atomaren Supermächten je zum Einsatz von Kernwaffen kommen. Und seien es zunächst auch nur sogenannte taktische oder Gefechtsfeldwaffen.
Allgemeiner Konsens war, dass der Gegner in einem solchen Falle adäquat antworten würde, was den Griff zu den nächst größeren Kalibern nach sich zöge – und so weiter. Unter Bedingungen, unter denen wegen der ungeheuren unmittelbaren Waffenwirkungen wie ebensolcher Kollateralschäden der politischen Führung die Kontrolle über das Kriegsgeschehen rasch entgleiten würde, käme schließlich das strategische Arsenal nicht zuletzt auch deshalb zum Einsatz, um seine präventive Zerstörung durch den Gegner zu verhindern. Was im Hinblick auf die Waffen in einen der eingängigsten Merksätze der Apokalypse gegossen wurde: use them or loose them.
Diese nie mit letzter Sicherheit auszuschließende Zwangsläufigkeit, dieser quasi Automatismus hat die USA allerdings keineswegs daran gehindert, über die Jahrzehnte hinweg trotzdem immer wieder nach technischen Wegen zur Einsetzbarkeit von Kernwaffen zu suchen. Durch Erhöhung der Treffsicherheit der Trägersysteme etwa, durch Verringerung der Sprengkraft und damit der Kollateralschäden. Und parallel dazu strategische Sandkastenspiele über die Begrenzbarkeit nuklearer Auseinandersetzungen anzustellen. Ist ja auch ein scheußliches Dilemma – über die mächtigste Waffe in der Menschheitsgeschichte zu verfügen, und die taugt zu nichts anderem, als andere von ihrem Gebrauch abzuschrecken, und, sollte dies versagen, die Selbstvernichtung herbeizuführen.
Ob die Sowjetunion vergleichbar vorging, ist zumindest nicht vergleichbar zweifelsfrei wie im Falle der USA dokumentiert. Da aber auf sowjetischer Seite vergleichbare Waffenentwicklungen stattgefunden haben, ist wohl davon auszugehen. In den USA hat dergleichen derzeit erneut Konjunktur – unter einem Präsidenten, der für seine Vision einer atomwaffenfreien Welt den größtmöglichen internationalen Vorschusslorbeer erhielt, den Friedensnobelpreis.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte der Think Tank Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington eine Studie mit dem Titel „Project Atom. A Competitive Strategies Approach to Defining U.S. Nuclear Strategy and Posture for 2025 – 2050“. Darin heißt es unter anderem: „Die Vornestationierung eines robusten Mixes von zielgenau einsetzbaren nuklearen Antwortoptionen vermittelt die Botschaft, dass die USA jeden nuklearen Angriff auf ihre Verbündeten in gleicher Weise […] beantworten werden. Die Glaubwürdigkeit dieser Botschaft wird dadurch gestärkt, dass das US-Territorium von der US-Antwort auf einen nuklearen Angriff auf einen regionalen Verbündeten nicht berührt würde.“
Solchen Überlegungen liegt ein Glaube an die Kontrollierbarkeit und Begrenzbarkeit nuklearer Kriegführung zugrunde. Der durchzieht denn auch diese Studie, obwohl zumindest an einer Stelle eingeräumt wird, dass die Frage, ob man tatsächlich an eine solche Möglichkeit glaube oder nicht, „eine ihrer Natur nach theologische“ (theological in nature) sei – so wie „mit vielen nuklearen Streitpunkten“. Denn: „[…] there is no evidentiary basis for thinking about nuclear war – es gibt keine auf Beweisen beruhende Basis für das Denken über den Atomkrieg.“
Trotzdem stellte aus Sicht der CSIS-Experten ein System voraus stationierter und einsatzoptimierter Kernwaffen – einen solchen Mix gab es in Westeuropa mit Zielrichtung UdSSR bereits einmal: in Gestalt von US-Pershing II-Raketen und -Cruise Missiles in Westeuropa ab Mitte der 1980er Jahre – einen „glaubwürdigeren US-‚Nuklearschirm‘“ dar als der heute existierende.
Der Preis wäre die Bereitschaft der Verbündeten, „US-Kernwaffen aufzunehmen“. Oder mit mehr definitorischer Schärfe formuliert: „Darin besteht ‚nuleare Lastenteilung‘ 2025 – 2050.“ (This is what constitutes „nuclear burden sharing“ in 2025 – 2050.)
Die Bereitschaft dazu kann im Falle der jetzigen Bundesregierung bekanntlich als gegeben gelten, denn gegen die bevorstehende Modernisierung der bis zu 20 US-Kernwaffen auf dem Bundesluftwaffen Fliegerhorst Büchel – ersetzt wird eine frei fallende Bombe ungewisser Treffgenauigkeit mit hoher Sprengkraft durch ein lasergesteuertes Lenkwaffensystem mit reduzierter Sprengkraft – liegt kein abweisendes Votum Berlins vor.
Dass die Überlegungen der CSIS-Experten keineswegs nur solitäre intellektuelle Flatulenzen im luftleeren Raum sind, machte eine Anhörung deutlich, die im März im Bewilligungsausschuss des US-Senats stattfand. Dabei ging es um die Entwicklung einer neuen luftgestützten Cruise Missile (Long-Range Standoff missile – LRSO). Diese könne, so hatte der damalige Kommandeur des Air Force Global Strike Command, Lieutenant General Stephen Wilson, 2014 erklärt, „Löcher und Breschen“ in Luftverteidigungssysteme schlagen, um nachfolgenden Bombern das Eindringen zu ermöglichen. Und der scheidende NATO-Oberbefehlshaber Europa, General Philip Breedlove, sieht dieses System auch als geeignet an, gegnerische Systeme auszuschalten, die der NATO den Zugang zu bestimmten Regionen versperren könnten – im NATO-Jargon anti-access area denial (A2AD). Als A2AD-Ziele gelten dabei insbesondere die modernsten mobilen Luftverteidigungssysteme der russischen Streitkräfte vom Typ S-400 sowie die russische Küstenverteidigung.
Bei der erwähnten Anhörung zog Dianne Feinstein, Senatorin der Demokraten, das LRSO-Projekt grundsätzlich in Zweifel. Sie berichtete von einem Treffen mit dem Chef des Strategic Command, Admiral Haney: Sie sei auch danach „nicht überzeugt von der Notwendigkeit dieser Waffe“. Deren „sogenannten Verbesserungen“ seien vielmehr „offen darauf ausgerichtet, sie (die Waffe – G.M.) anwendbarer zu machen, um uns zu helfen, einen begrenzten Nuklearkrieg zu führen und zu gewinnen. Ich finde, dies ist ein schockierendes Konzept […] wirklich unfassbar […].“
Auch eine auf sechs oder sieben Kilotonnen Sprengkraft reduzierte Kernwaffe sei „gewaltig“, meinte die Senatorin und warnte generell vor derartigen Entwicklungen: „ […] es ist wie mit der Drohne. Die Drohne wurde eingeführt. Sie wurde bewaffnet. Jetzt will jeder eine haben. So werden sie immer ausgeklügelter. Das Gleiche mit Kernwaffen zu tun, ist, denke ich, schauderhaft.“
Und während hierzulande und an anderen potenziellen künftigen Stationierungsorten neuer US-Kernwaffen für den Gefechtsfeldeinsatz einäugige Auguren weiter über einen von Russland ausgelösten Dritten Weltkrieg menetekeln, könnte ein Blick nach Washington den dadurch projizierten Horror im Handumdrehen mindestens duplizieren.
Schlagwörter: Atomkrieg, Cruise Missile, Diane Feinstein, Gabriele Muthesius, Senat