19. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal Erich Kästner auf der Bühne und im Buch; der unbekannte Flüchtling im Theater…

* * *

„Er glaubt an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder, und so wäre alles gut und schön, wenn er an Wunder glaubte, doch eben das verbietet ihm der gesunde Menschenverstand. Es steckt jeder in seiner eigenen Zwickmühle“, sagte Erich Kästner über Erich Kästner (1899-1974), diesen so überaus fleißigen, vielseitigen Feuilletonisten, Dramatiker, (Kinder-)Bücher-, Sketsche- und Gedichte-Schreiber, der mit massig Humor, Menschenliebe und Lebensweisheit („Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es!“) unermüdlich gegen die Trägheit der Herzen und die Unbelehrbarkeit der Köpfe ritt. Würde man versuchen, so Kästner, sein Schreiben sinnbildlich zu fassen, käme ein Strauß heraus der aussähe „wie ein Gebinde aus Gänseblümchen, Orchideen, sauren Gurken, Schwertlilien, Makkaroni, Schnürsenkeln und Bleistiften“.
Einem solch bizarren Gebilde gleicht tatsächlich der feine Kästner-Abend „Das Glück ist keine Dauerwurst“ mit Gabriele Streichhahn und Carl-Martin Spengler im just sein 25-jähriges Bestehen feiernden salonhaften Berliner Brettl Theater im Palais gegenüber der Staatsoper Unter den Linden (lokal grundierte Abende mit Inszenierungen gemischt aus erzählenden, spielenden, musikalischen Elementen, so die Ansage). Diese Kästner-Revue ist voller Witz und Lebensklugheit, macht auf ganz unaufdringliche Art nachdenklich, aber letztlich auch glücklich und herzensfroh. Kästners Texte wirken wie geschrieben für den Tag, auch wenn sie nun schon gut acht Jahrzehnte alt sind. Besonders gegenwärtig seine Berlin-Beobachtungen. Da nimmt er den Großstadtbetrieb aufs Korn, lästert über Starfriseure, Prominenten-Kochshows, gastronomische Edelbetriebe oder avanciertes Theater, das keiner versteht, aber jeder beklatscht. Alles wie heutzutage. – Man sollte seiner Seele Balsam geben, den Kopf durchlüften, das Herz aufpolieren und zu Kästner gehen. Herrlich! Auch durch die feinen Zwischenspiele von Ute Falkenau am Pianoforte mit Schostakowitschs mal ungestüm, mal melancholisch kreisendem „Karussell der Tänze“.

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt,
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen…

* * *

Prima gekästnert! Dazu gibt es auch noch ein äußerst unterhaltsam geschriebenes, akribisch recherchiertes, mit frappierendem Bildmaterial reich illustriertes Kästner-Buch des Berliner Literaturwissenschaftlers (und originellen Stadtführers) Michael Bienert (Verlag für Berlin und Brandenburg, 160 Seiten, 24,99 Euro). Bienert ist ein profunder Fährtensucher, der bereits den Spree-Spuren von Schiller, E.T.A. Hoffmann oder Brecht nachspürte und dabei – wie jetzt bei Kästner – das Historische in Bezug setzt zum Heute. Man lernt viel über das Gesicht dieser Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg (und danach, diverse Aufnahmen „vorher“ und „nachher“ nebeneinander gestellt, dazu entsprechende Auszüge aus Stadtplänen). Die sich daraus ablesenden Verluste, nicht nur im Menschlichen, bestürzen immer wieder…
Kästner, gebürtige Dresdner, der Mitte Dreißig berühmt und zugleich verboten und verbrannt war, sinnbildlich von den Nazis auf dem Opernplatz, wo man seine Bücher ins Feuer warf; dieser elegant wohlhabende Herr und Frauenverführer blieb dennoch in der Stadt, wohnte zwischen 1927 bis 1945 (!) in Wilmersdorf nahe Kudamm. Später übersiedelte er nicht zurück ins zerbombte, russisch besetzte Dresden (dort gibt es ein kleines Kästner-Museum am Albertplatz), sondern nach München.
Bienerts stadt-, kultur- und literaturgeschichtlich so spannender Text-Bild-Band beschreibt die hauptstädtische Vorkriegsbohème in ihrem Alltag (Romanisches Cafe, Schwannekes Weinstuben), den rasenden Kulturbetrieb, listet Kästners Privatgeschichten – auch das! – und seine Domizile auf (Fotos, Wohnungs-Grundrisse) sowie die vielen Kieze, in denen seine Geschichten und Feuilletons spielen.

***

Der Abend an der Berliner Vaganten-Bühne fängt lustig an mit Barbara und Mario. Ein junges Paar, bionademäßiger Lebensstil, beide berufstätig, genug Kohle, aber eben auch nicht übermäßig. Total nette Leute sozusagen. Ein bisschen schade nur, dass es mit der Liebe nicht mehr so läuft wie anfangs – halt der Lauf der Welt; aber man versteht sich prima. Da ziehen in die Nachbarwohnung Linda und Paul, auch so ein Pärchen wie Barbara und Mario, vielleicht einen Zacken jünger und – das vor allem – deutlich aktiver auf dem Sofa, man hört es ordentlich krachen und stöhnen durch die Wand hindurch. Die Lust der einen irritiert die anderen. Trotzdem, man kommt sich näher, auch von Mann zu Mann und Frau zu Frau. – Soweit das banal häusliche Setting von Philipp Löhles Komödie „Wir sind keine Barbaren!“. Man lehnt sich entspannt zurück, soweit das überhaupt möglich ist im engen Gestühl der “Vaganten”, der so kleinen wie traditionsreichen Off-Bühne im Souterrain vom Kino „Delphi“ in der Kantstraße. Und man erwartet einen der üblichen Über-Kreuz-Vierer. Ein hoffentlich saftig unterhaltsames Beziehungskistchen im kabarettistisch grundierten, sozial wie psychologisch ordentlich ausgemalten Komödienstadel der jungen, modern-urbanen Kleinbürgerei.
Weit gefehlt! Es kommt ganz anders und bleibt dennoch unterhaltend und spannend, steigert sich dabei aber zunehmend ins Irritierende, schließlich sogar ins höchst Beklemmende. Und das fängt damit an, dass Barbara einen gewissen Klint oder Bobo trifft, von dem sie weder den genauen Namen noch dessen Herkunft kennt – aber er ist, das sieht sie schon – ein Farbiger. Sie weiß nur eins: Der braucht Hilfe, braucht ein Dach überm Kopf, braucht Versorgung. Er ist Flüchtling von woher auch immer. Und sie bringt ihn mit nach Hause. Gelebte Willkommenskultur! Die in solchem Fall verständliche Skepsis bei Mario und auch bei den Nachbarn Linda und Paul legt sich mit der Zeit, kollektive Willkommenskultur breitet sich aus. Bis eines Tages Entsetzliches geschieht: Barbara wird tot aufgefunden. Und Klint/Bobo ist verschwunden. Ein Mordfall? Kann sein, kann auch nicht sein. Die grauenvolle Sache, die da wie der Blitz einschlägt ins Welcome-Idyll, bleibt unaufgeklärt.
Philipp Löhle, Jahrgang 1978 mit Schweizer Pass, entwarf eben keine gängige Lustigkeit im Seifenopern-Format, sondern eine originelle Art Versuchsanordnung, also letztlich ein Konstrukt; der Flüchtling bleibt reine Metapher, er tritt nie auf als Figur, über ihn wird immer nur wie auch immer geredet. In dieses Konstrukt setzt Löhle geschickt nahezu sämtliche Argumentationslinien von ganz links bis ganz rechts zum Thema „Asyl“ und „Flüchtlingspolitik“. Wow! Muss man erst mal nachmachen, dass da kein papiernes Thesenstück entsteht, sondern – sozusagen parteiübergreifend – aufregende Lebenswirklichkeit gebannt wird. Wobei anzumerken ist: Der Autor ist nicht schlauer als sein Publikum, das immerzu hin- und her gerissen ist zwischen Menschenfreundlichkeit und Furcht vor dem Anderen, dem auch als bedrohlich Wahrgenommenen.
Kontrapunktiert wird diese von Bettina Rehm so locker wie präzise inszenierte Ambivalenz durch einen so genannten heimatlichen WIR-Chor, der als artifizielles „Textfeld“ immer wieder eingeschoben wird in den Handlungsverlauf und diesen kommentiert – quasi die öffentliche Meinung. „Die Abgründe in unserem Innern sind tief / Unheimlich tief / Unheimlich / Konservativ.“ – Man begreift: Es geht um den in uns allen nistenden Barbaren. Um die feine dünne Haut, die unsere vermeintlich hohe Zivilisation oder vermeintlich feste Wertegemeinschaft zusammenhält – oder eben nicht. Ein packendes Stück zur Stunde. Aber auch: Ein gutes Stück für jederzeit.