19. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2016

Neue Marschflugkörper – neue Gefahren

von Jerry Sommer

Über 2000 Mal haben die USA in den vergangenen Jahrzehnten ihre Marschflugkörper vom Typ „Tomahawk“ eingesetzt: in den Golfkriegen gegen Irak, gegen Libyen und zuletzt gegen den sogenannten Islamischen Staat. Diese „Tomahawks“ sind mit konventioneller Munition bestückt und werden von U-Booten und Kampfschiffen abgeschossen. Sie haben eine Reichweite bis zu 2500 Kilometern. Marschflugkörper mit kürzeren Reichweiten, die auch von Flugzeugen abgeschossen wurden, benutzten die USA zudem im Bosnien- und im Kosovo-Krieg. Da sie über GPS gesteuert werden, können sie in geringer Höhe – unter 200 Meter – fliegen. So können sie gegnerischen Radaren entgehen. Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik beschreibt die Einsatzszenarien dieser Waffen: „Die Treffergenauigkeit von konventionellen Marschflugkörpern liegt bei drei bis zehn Metern. Man macht so etwas, um Luftverteidigung vor Beginn eines Konfliktes zu zerstören oder Kommandozentralen zu zerstören mit konventionellen Sprengköpfen.“
Russland besitzt ebenfalls schon seit längerem seegestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von etwa 2500 bis 3000 Kilometern. Sie sind aber vorwiegend mit nuklearen Sprengköpfen bestückt. Die Vereinigten Staaten und Russland haben auch mit Nuklearsprengköpfen ausgestattete Marschflugkörper, die von Flugzeugen aus abgefeuert werden – mit Reichweiten zwischen 2500 und 6000 Kilometern. Russland lag technologisch allerdings weit hinter den USA zurück – vor allem was weiterreichende konventionelle Marschflugkörper angeht.
Der große Vorsprung der USA in Bezug auf Marschflugkörper ist jetzt deutlich kleiner geworden. Das hat der Einsatz von luft- und seegestützten russischen Cruise Missiles im Syrien-Krieg gezeigt. Zum Beispiel wurden vom Kaspischen Meer aus neue Kalibr-Marschflugkörper aus einer Entfernung von 1500 Kilometern auf Ziele in Syrien abgefeuert.
Moskau beginnt erst, solche neuen punktzielgenauen konventionellen Marschflugkörper in sein Arsenal einzuführen. Militärische Interventionen in fernen Ländern, zu denen in den vergangenen 25 Jahren nur die USA in der Lage waren, werden damit auch für Russland einfacher werden. Zweifellos wird Moskau auch Ziele in Westeuropa mit schwer zu entdeckenden neuen konventionellen Cruise Missiles erreichen können. Allerdings sind die USA und die NATO schon jetzt in der Lage, mit Marschflugkörpern von Schiffen und Flugzeugen aus Ziele fast überall in Russland zu treffen. Zudem planen die USA, neue, noch modernere luftgestützte Cruise Missiles vom Typ JASSM mit einer Reichweite von mehr als 1000 Kilometern auch in Europa zu stationieren. Zusätzlich wird die Region durch Exporte von US-Marschflugkörpern weiter aufgerüstet, wie der Rüstungsexperte Hans Kristensen von der Federation of American Scientists berichtete: „Eine Version der JASSM mit einer Reichweite von 450 Kilometern wird auch an Polen und Finnland verkauft. Diese Marschflugkörper werden Auswirkungen auf Kaliningrad, St. Petersburg und die russische Kola-Halbinsel haben.“
Deshalb würden die neuen russischen Marschflugkörper nach Meinung Kristensens die militärische Überlegenheit der NATO gegenüber Russland in Europa nicht beeinträchtigen: „Die NATO hat insgesamt erheblich mehr moderne konventionelle Systeme als Russland – in Bezug auf die Technologie, die Aufklärungs- und die Cyberfähigkeiten. Die russischen Streitkräfte können es mit diesen Fähigkeiten nicht aufnehmen.“
Sicher aber werden die neuen konventionellen Marschflugkörper sowohl im Westen wie auch in Moskau Bedrohungsängste schüren. Konventionelle Cruise Missiles waren noch nie Bestandteil europäischer Rüstungskontrollmaßnahmen. Das müsse sich ändern, fordert Friedensforscher Götz Neuneck: „Man sollte in Europa alles Mögliche unternehmen, dass man nicht auch hier in einen Rüstungswettlauf mit Russland kommt. Wenn man gar nicht miteinander redet, sondern nur entwickelt und neue Rüstungsprogramme auflegt, dann wird man auch nicht zu einer Möglichkeit einer Begrenzung kommen. Man muss diese Begrenzung suchen.“
Das Interesse daran scheint jedoch zurzeit nirgends vorhanden zu sein. Zudem haben die USA bisher prinzipiell abgelehnt, die Zahl weiterreichender konventioneller Präzisionswaffen zu begrenzen.
Dabei ist mit den neuen Marschflugkörpern eine weitere Gefahr verbunden: Sie sind im Prinzip sowohl mit konventionellen als auch mit nuklearen Waffen bestückbar. Das kann im Konfliktfall zu Fehlinterpretationen und damit zu einem Atomkrieg führen. Für see- und luftgestützte Marschflugkörper mit Nuklearwaffen gibt es zudem keinerlei vertragliche Begrenzungen. Die USA hatten sich 1987 geweigert, diese Waffengattung in den Mittelstreckenraketenvertrag mit der Sowjetunion aufzunehmen. Deshalb verbietet dieses Abkommen Moskau und Washington nur landgestützte Cruise Missiles mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern. Auch die weiterreichenden interkontinentalen Marschflugkörper sind durch keinen Vertrag begrenzt. Die USA wollten ihren militärtechnologischen Vorsprung nicht aufgeben.
Gegenwärtig ist Washington dabei, 1000 weitreichende luftgestützte Cruise Missiles neu zu ordern. Mindestens 550 davon sollen mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden. Sie werden alte Cruise Missiles dieses Typs ersetzen, die im Kalten Krieg vom damaligen Verteidigungsminister William Perry unter Hinweis auf die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion in Europa eingeführt worden waren. Die neuen Cruise-Missiles-Pläne kritisiert William Perry nun als unnötig, destabilisierend und gefährlich. In einem Zeitungskommentar appellierte er: „Präsident Obama kann die Zukunft der Welt stabiler und sicherer machen, indem er die Pläne für neue mit Nuklearwaffen bestückbare Marschflugkörper der USA aufgibt. Solch ein Schritt, der die starke nukleare Abschreckung der USA nicht im Mindesten verringern würde, könnte die Grundlage für ein globales Verbot dieser gefährlichen Waffen schaffen.“
Die besondere Gefahr, die von Cruise Missiles ausgeht, ist den Militärs durchaus bewusst. Über russische Marschflugkörper sagte im vergangenen Mai der damalige stellvertretende Vorsitzende des US-Generalstabs, Admiral James Winnefield: „Ein Überraschungsangriff mit Interkontinentalraketen ist so gut wie unmöglich, wir hätten Zeit zu reagieren. Aber das gilt nicht für einen Angriff mit Marschflugkörpern, der das Ziel hat, unsere Entscheidungsfähigkeit zu eliminieren.“
Der Admiral befürchtete, dass russische Cruise Missiles als Erstschlagswaffen eingesetzt werden könnten. Die seien von Radargeräten nur schwer zu entdecken und könnten Kommandozentralen der USA ausschalten. Diese Gefahr ist tatsächlich gegeben. Allerdings gilt sie für die USA genauso wie umgekehrt für Russland. Geboten wäre deshalb, Verhandlungen zwischen Moskau und Washington über ein Verbot zumindest von nuklear bestückten Marschflugkörpern zu beginnen, sagt Rüstungsexperte Hans Kristensen: „Nuklear bestückte Marschflugkörper zu verbieten, das wäre der richtige nächste Schritt. Russland und die USA sollten daran interessiert sein, ihre Systeme gegenseitig zu begrenzen, aber auch daran, zu verhindern, dass andere Nuklearstaaten anfangen, ihre Cruise Missiles mit nuklearen Sprengköpfen zu bestücken.“
Denn sowohl China als auch Indien und Pakistan sind dabei, solche Systeme zu entwickeln. Ein globales Verbot nuklearer Marschflugkörper könnte neue Gefahren einen Atomwaffeneinsatzes verhindern. Außerdem müssten mittelfristig auch konventionell bestückte weitreichende Waffensysteme – Marschflugkörper wie ballistische Raketen – durch Rüstungskontrollverträge begrenzt werden. Denn konventionell und nuklear bestückte Waffen sind kaum zu unterscheiden. Zudem erhalten konventionelle Waffen immer mehr auch technische Fähigkeiten, mit denen die strategische Stabilität beeinträchtigt werden kann.

Jerry Sommer arbeitet als freier Journalist und ist Research Associate des Bonn International Center for Conversion. Der Artikel ist eine leicht veränderte Version seines Beitrages für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 12.3.2016).