von Wolfgang Brauer
In Thüringen tanzte die LINKE-Abgeordnete Johanna Scheringer-Wright dieser Tage aus der Reihe. Als einzige Abgeordnete des Landtages stimmte sie gegen eine Gesetzesvorlage der Koalition, die durch eine Änderung des Thüringer Feiertagsgesetzes den „17. Juni 1953 in eine Reihe mit dem 8. Mai 1945“, so Scheringer-Wright, stellt. Die Abgeordnete erklärte, dass damit „das faschistische Deutschland und die DDR auf eine Stufe“ gehoben würden: „… und das wiederum ist massive Geschichtsverfälschung.“ Ihr Fraktionskollege Steffen Dittes hingegen meinte, dass der 17. Juni „nicht nur für das Aufbegehren gegen die SED, sondern auch für die Unfähigkeit der Einheitspartei“ stehe, „auf gesellschaftliche Kritik durch Veränderungen zu reagieren“. Nun kann man von Landtagsabgeordneten nicht verlangen, dass sie in Sachen Geschichte besonders sachkundig sind. Äußern sie sich aber zur Geschichtspolitik, so kann ein Blick ins Buch durchaus von Nutzen sein. Dittes glaubt, dass mit dem neuen Gedenktag auch eine „neue Kultur der Aufarbeitung der Geschichte“ auf den Weg gebracht werde. Ich empfehle Steffen Dittes und Kollegen Matthias Kraußʼ „Wem nützt die ‚Aufarbeitung‘?“ – fast auf den Tag genau zur Erfurter Entscheidung in der edition ost erschienen.
In seinem Buch, weniger Analyse denn Streitschrift, untersucht der Publizist Krauß die von der „Bundesstiftung Aufarbeitung“ angeführte „Aufarbeitungsindustrie“, wie er sie nennt – immerhin geht es um beträchtliche Zuwendungsbeträge seitens des Bundes und der Länder und Kommunen – hinsichtlich ihrer Motivationen und der Resultate ihrer Forschungen. Über letztere fällt sein wohlargumentiertes Urteil knapp, aber vernichtend aus: „Es handelt sich um die Wiederauferstehung der Propaganda.“ Besonders verheerend sei, dass gleichsam die Leitlinien der „Aufarbeitung“ von politischen Parteien vorgegeben werden würden. Den politischen Parteien – Krauß macht hier keine Unterschiede – stehe „der Agitator ohnehin näher als der Wissenschaftler. Sie schätzen weniger wissenschaftliche Sachlichkeit als vielmehr das professorale Mietmaul.“ Das ist heftig. Aber er weiß sich in dieser Frage einig mit dem Leiter des Potsdamer Zentrums für Zeitgeschichtliche Studien, Martin Sabrow, der bereits 2009 in der FAZ eine „schleichende Entwertung“ des symbolischen Fachkapitals der Zeitgeschichte konstatierte, die eine Folge des Erkaufens „der gesellschaftlichen Akzeptanz der Vergangenheitszuwendung“ sei. Sabrow drückt es etwas eleganter, aber nicht minder drastisch aus als Krauß: „Die Pathosformel der Aufarbeitung verbirgt, dass die Verbindung von Erinnerungskultur und Fachwissenschaft eine liaison dangereuse ist.“ Bertolt Brecht fand für solch gefährliche Liebschaften im „Puntila“ das treffende Bild der „Lieb zwischen Füchsin und Hahn“: „All seine Federn, sie hängen im Strauch.“ Auch wenn sich der Historiker dem, was man „die Wahrheit“ nennt, bestenfalls annähern kann – infolge der Indienstnahme der Geschichte durch die Politik bleibt zuallererst deren Fachlichkeit auf der Strecke.
Eines der vom Autor häufig in unterschiedlichen Zusammenhängen vorgebrachten Argumente gegen das banale Geschichtsbild der „Aufarbeiter“ ist das von deren überhaupt nicht vorhandener Bereitschaft zur Kontextualisierung der DDR-Geschichte. Für diese war der andere deutsche Staat offenbar nichts anderes als das Laborprodukt einer Reagenzglaszeugung durch Josef Frankenstein Stalin und seinen Famulus Ulbricht. Weder der Kalte Krieg noch die kolonialen Massaker des Westens seien existent gewesen. Singulär wären lediglich die Untaten des SED-Regimes gewesen. Krauß ist zuzustimmen, wenn er diese comic-strip-Geschichtsbetrachtung geißelt. Allerdings lässt er sich hier durchaus auf die Leimrute der Propagandisten locken. Das Gegenteil eines Fehlers ist wieder ein Fehler… Und jedes beispielsweise jungen Menschen von Vertretern eines politischen Systems zugefügte Unrecht macht diese zu potenziellen Gegnern eben dieses Systems. Das war auch in der DDR so. Matthias Krauß weiß das: „Der Sozialismus hat klar denkende, gut ausgebildete, sich ihrer Interessen sichere Menschen hervorgebracht, die ihn schließlich selbst zu Fall brachten.“ Übrigens ohne dass ein einziger Schuss fiel. Die Waffen befanden sich in der Hand der zu Fall gebrachten Staatsmacht. Woanders lief das blutiger ab.
Die von Krauß aufgestellten Thesen zur Auseinandersetzung mit den „Aufarbeitern“ sind interessant. Manche Behauptung – zum Beispiel die zum Verhältnis der seinerzeitigen PDS zu den ehemaligen Mitarbeitern des MfS – kommt etwas zu locker daher. Der Autor wettert gegen deren von manchen angenommene „Sündenbock“-Funktion im Ringen um den Erhalt der Partei. Allerdings hat auch er keine Erklärung für die Massenflucht dieser Leute aus den Reihen ihrer Partei zu Beginn der 1990er Jahre. Opportunismus wird es in den wenigsten Fällen gewesen sein. Diesen Menschen war klar, dass sie vom „Gegner“ nichts zu erwarten hatten.
Aber das ist nur ein marginales Problem. Schwerer macht es sich Krauß mit der Frage, weshalb die „Aufarbeitungsmaschinen“ geradezu proportional mit wachsendem Abstand zum Untergang der DDR immer heißer laufen: „Neben der schon genannten Ablenkungsfunktion und dem Bestreben, auf dieser Grundlage Ostdeutsche aus ihren Positionen zu verdrängen, erfüllt diese Aufarbeitung Rache-Funktion.“ Damit bleibt er an der Oberfläche. Es ist wohl weniger die Tatsache, dass die „schuldbeladenen deutschen Eliten […] ein einziges Mal in der deutschen Geschichte 45 Jahre lang auf einem Drittel des deutschen Territoriums nichts zu sagen hatten“ – es ist wohl eher die Furcht, dass angesichts kulminierender Krisenzustände der kapitalistischen Gesellschaft das Volk, „der große Lümmel“ (Heinrich Heine), zum Wiederholungstäter werden könnte. Nach der Niederlage der Bauern und Bergknappen im steirischen Schladming gab es im Ennstal keinen Obstbaum, an dem nicht ein Bauer hing. Von da ab war über Jahrhunderte Ruhe im Land… Darum geht es.
Nun wird die Wirkung des Kraußschen Buches auf die „Aufarbeiter“ gegen Null tendieren. Aber Menschen wie Steffen Dittes und Genossen, auch den vielen, die geschockt auf jede neue Enthüllungssau blicken, die von den Mainstream-Medien durchs Dorf getrieben wird, sei es dringend zur Lektüre empfohlen. Gegen den Zeitgeist gibt es ein einziges Immunmittel: die Schärfung des eigenen Denkvermögens. „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ – So versucht Goethes Faust seinem Famulus Wagner auf die intellektuellen Sprünge zu helfen. Er scheitert. Davon sollte man sich nicht entmutigen lassen. Der Eulenspiegel-Verlagsgruppe sei gedankt. Das Buch kommt zur richtigen Zeit.
Matthias Krauß: Wem nützt die „Aufarbeitung“? Die institutionalisierte Abrechnung, edition ost, Berlin 2016, 208 Seiten, 12,99 Euro.
Schlagwörter: Aufarbeitung, Aufarbeitungsindustrie, DDR-Geschichte, Martin Sabrow, Matthias Krauß, Wolfgang Brauer