19. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2016

Gustav Mahler und die Dichter seiner Zeit

von Mathias Iven

Fünf Jahre ist es her, da gedachte die Musikwelt des 100. Todestages von Gustav Mahler. Bei manch anderer Person geht so ein Anlass nicht über das Gedenken hinaus. Anders bei Mahler. Die Begeisterung für sein Werk ist ungebrochen. Seine Musik ist in den Konzertsälen präsent, man hört seine Sinfonien und Lieder im Radio, fast jede Woche gibt es neue CD-Einspielungen. Doch das Interesse des Publikums beschränkt sich nicht auf sein musikalisches Werk. In den letzten Jahren hat man auch seine Biografie weiter erforscht. Einer, der hier Hervorragendes geleistet hat, ist Franz Willnauer. Allein in den letzten zehn Jahren hat er drei Bände mit Korrespondenzen Mahlers herausgegeben. So erschien 2006 der Briefwechsel mit der Sängerin Anna von Mildenburg, gefolgt von einer Sammlung mit Schreiben an Komponisten, Dirigenten und Intendanten (2010), und schließlich legte er 2012 Mahlers Briefe an seine Verleger vor.
Für den neuen, soeben bei Zsolnay erschienenen Band hat Willnauer in unermüdlicher Kleinarbeit rund 260 bisher unbekannte oder an entlegener Stelle veröffentlichte Schreiben von und an Mahler zusammengetragen. In einigen Fällen handelt es sich zwar nur um Einzelstücke oder auf ein Ereignis bezogene Briefe, die jedoch im Kontext der bisher bekannten Korrespondenzen „viele winzige Lücken in unserer Kenntnis von Mahlers Werk und Leben schließen“, wie Willnauer in seinem Vorwort bemerkt. Zu diesen Lücken oder sagen wir besser zu den Eigenheiten Mahlers gehörte der Umgang mit den dichterischen Größen seiner Zeit. Eine „seltsame Distanziertheit“ bestimmte sein Interesse an der lyrischen Produktion seiner Zeitgenossen. Zeitlebens blieben einzig die Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ und die Gedichte Friedrich Rückerts Quellen für seine Liedkompositionen.
Einer von denen, die hofften, dass Mahler ihre Gedichte vertonen würde, war Richard Dehmel, „der erste ,richtige‘ Dichter, mit dem Gustav Mahler eine persönliche Verbindung knüpfte“. Mahler kannte Dehmel, der um 1900 zu den bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Literaten zählte, seit seiner Zeit als Erster Kapellmeister des Hamburger Stadt-Theaters (1891-97). Als Dehmel ihm, beseelt von dem Wunsch, seine Verse in Musik gesetzt zu sehen, seinen neuesten Gedichtband übersandte, antwortete Mahler sehr reserviert und seine Arbeit als Wiener Hofoperndirektor vorschiebend: „Gewiß fühle ich mich aus Ihren Versen wahlverwandt berührt, und ich könnte mir keine höhere Aufgabe denken, als dieselben in meinen Tönen mitdichtend wieder aufleben zu laßen. Aber: wissen Sie denn nicht, daß ich gegenwärtig Theaterdirektor bin?“ – Ob es da für Dehmel ein Trost war, dass Alma Mahler als glühende Verehrerin seiner Lyrik mehrere Gedichte von ihm vertonte?
Auch das Verhältnis zu Hermann Bahr, den Mahler 1897 kennenlernte, ging nicht über Bekundungen der gegenseitigen Achtung hinaus. Bahr, seit 1904 mit der Hofopernsängerin und einstigen Geliebten Mahlers Anna von Mildenburg liiert, schickte Mahler seine Bücher und veröffentlichte auch einige Artikel zu dessen Inszenierungen. In diesem Zusammenhang hebt Willnauer hervor: „Gerade Mahlers Beharrlichkeit bei der Durchsetzung der Reformen gegen Kritik und Publikum beeindruckte Bahr dermaßen, dass er 1910 den Ausspruch tätigte: ,Mahler, das war ein Wille.‘“
Hugo von Hofmannsthal bemühte sich vergeblich, das von Alexander von Zemlinsky 1901 vertonte Libretto seiner Tanzdichtung „Der Triumph der Zeit“ durch Mahler auf die Bühne bringen zu lassen. Eine Reaktion auf seine dementsprechenden Schreiben blieb aus. Zemlinsky gegenüber beklagte Hofmannsthal: Mahler „denkt von der ganzen Kunstgattung schlecht“. Doch war das wirklich so? In ihren Erinnerungen berichtete Alma Mahler, dass sie auf die Frage, warum er das Ballett nicht aufführe, zur Antwort erhielt: „Weil ich es nicht verstehe.“ War es doch, wie Willnauer erklärt, Mahlers Überzeugung, „dass nur eine verständliche Bühnenhandlung im Zusammenwirken von Text, Szene und Musik einen Theatererfolg garantieren würde“. Wie ernst die von Mahler im Sommer 1907 ausgesprochene Hoffnung, „daß wir uns künftig oft begegnen mögen“, wirklich gemeint war, sei dahingestellt – erfüllt hat sie sich leider nicht.
„Hervorragender Kopf. Dämonische Naturkraft. Stempel des großen Geistes unverkennbar.“ So lautete die Eintragung in Gerhart Hauptmanns Tagebuch, nach der ersten Begegnung mit Mahler am 4. Februar 1904. Und Ende des Monats hieß es in einem nur fragmentarisch überlieferten Brief Hauptmanns: „Ich habe eine wahre Sehnsucht danach, Ihre Musik zu hören und in sie einzudringen.“ Mahlers Antwort darauf, so fasst es Willnauer zusammen, „gipfelt im Bekenntnis zu einer aus der Freundschaft gespeisten Geistesgemeinschaft, die der Musiker Mahler keinem anderen Künstler seiner Zeit so unverhüllt angeboten hat“. In dem Anfang März 1904 geschriebenen Brief war zu lesen: „Wir wollen es einander aussprechen, […] daß wir zu einander gehören.“ Im Jahr darauf – die beiden waren mittlerweile zum Du übergegangen – fragte Mahler schließlich: „Sollten wir nicht doch noch einmal eine Wegstrecke des Lebens zusammen zurücklegen können? – Mein Verhältnis zu Dir ist – ich fühle das immer mehr – durch die Empfindung geschlossen – wie eine Jugendfreundschaft!“
Willnauer hat auch mit diesem Band wieder eine hervorragende editorische und für die Mahler-Forschung wichtige Arbeit geleistet. Die jedem einzelnen Briefpartner gewidmeten, teils sehr umfangreichen, vor allem aber äußerst informativen Texte dürften auch dem Eingeweihten noch das eine oder andere Aha-Erlebnis verschaffen. Im Zusammenhang mit einer früheren Besprechung sei allerdings noch einmal der Wunsch ausgesprochen, dass ein Verzeichnis aller im Band enthaltenen Schriftstücke sowie eine Übersicht der für die Anmerkungen verwendeten Literatur den Band benutzerfreundlich aufwerten könnte.
Da es auf absehbare Zeit keine gedruckte Gesamtausgabe der mehr als 5000 Schreiben umfassenden Mahler-Korrespondenz geben wird, sollte ein nächstes Ziel der Mahler-Forschung eine bei neuen Funden problemlos zu ergänzende digitale Ausgabe sein.

Gustav Mahler: „In Eile – wie immer!“ Neue unbekannte Briefe (hrsg. von Franz Willnauer), Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016, 480 Seiten, 27,90 Euro.