von Erhard Crome
Beim dritten Wurf wurde etwas getroffen. Aber was? Sind die Beschlüsse des EU-Gipfels vom 17. und 18. März 2016 die lange angekündigte „europäische Lösung“ in Sachen Flüchtlingskrise oder besser: der Krise der europäischen Politik zur Bewältigung des Flüchtlingsproblems? Der Europäische Rat zumindest versucht, einen solchen Eindruck zu erwecken. So heißt es in den Schlussfolgerungen zur Ratstagung, der Europäische Rat bekräftige „seine umfassende Strategie zur Bewältigung der Migrationskrise“. Mehrere Elemente der „gemeinsamen europäischen Antwort“ seien bereits umgesetzt und zeitigten Ergebnisse, an anderen werde „unentwegt weitergearbeitet“.
Gemeint ist zunächst folgendes: Ab 20. März in Griechenland ankommende Migranten können in die Türkei zurückgeschickt werden. Die EU spricht jetzt von „irregulären Migranten“. De facto sind das fast alle nach Griechenland gelangenden Menschen. Sie sollen in Sammelzentren, Hotspots genannt, unter Kontrolle gehalten werden. Für Deutschland und in Deutschland wurde das immer abgelehnt; jetzt wird es an der EU-Außengrenze eingeführt. Es solle dennoch keine Massenabschiebungen geben, Griechenland habe jeden Einzelfall zu prüfen. Dazu haben die anderen EU-Länder zugesagt, „Grenzschutzbeamte“ und „Asylexperten“ in diese Hotspots zu schicken. Im Gegenzug sieht die Vereinbarung mit der Türkei vor, dass für jeden syrischen Flüchtling, den die Türkei zurücknimmt, ein Syrer von dort auf legalem Wege in die EU kommen kann. Es heißt, die EU habe insgesamt 72.000 Plätze zur legalen Aufnahme von Syrern aus der Türkei vorgesehen.
Noch während des Gipfels klagte Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments: „Es gibt hier Länder, die bewegen sich überhaupt nicht.“ Zwanzig EU-Staaten verweigerten die Aufnahme von Flüchtlingen. Am Ende des Gipfels gab es eine „Koalition der Willigen“, die Flüchtlinge aufzunehmen sich bereit erklärten. Dazu gehörten Deutschland, Portugal und Schweden. Österreich und einige andere hatten sich noch zurückgehalten.
Einige Medien berichteten, im Hintergrund des Konstrukts stehe ein Mann namens Gerald Knaus, Österreicher und Leiter einer von George Soros finanzierten Denkfabrik „European Stability Initiative“, der auch Kanzlerin Angela Merkel beraten habe. Danach geht es im Kern darum, nach dem Stopp der „irregulären Überfahrten“ nach Griechenland ein „Freiwilliges Humanitäres Aufnahmesystem“ für syrische Flüchtlinge zu schaffen, die sich derzeit in der Türkei aufhalten. Die Rede ist von 300.000 im Jahr. Das soll die Türkei entlasten. Außerdem kann man bereits in der Türkei prüfen, welche Personen aufgenommen werden, sie werden eingeflogen und die Gefahr des Ertrinkens in der Ägäis besteht nicht. Deutschland, so heißt es, habe sich bereit erklärt, den Hauptteil dieser Flüchtlinge aufzunehmen – immerhin sind 300.000 weniger als eine Million, und sie sind bereits namentlich bekannt und kontrolliert. Wenn andere EU-Länder kleinere Kontingente übernehmen, könne das Ganze als „europäische Lösung“ verkauft werden, auch wenn es in der Sache wieder eine deutsche Lösung ist.
Der Plan, so die Informationen über Knaus‘ Rolle, sei mit den USA abgesprochen: Das Projekt des Baus einer Trans-Adria-Pipeline (TAP) braucht Ruhe und soll von den Flüchtlingsbewegungen und ihren Folgen nicht gestört werden. Die TAP soll von der Türkei durch Griechenland, Albanien und das Adriatische Meer nach Süditalien verlegt werden und mit der Transanatolischen Pipeline (TANAP), deren Bau ebenfalls 2015 begonnen wurde, verbunden werden. Auf diesem Wege soll Erdgas aus dem kaspischen Raum nach Westen transportiert werden, mit einer Kapazität von etwa 20 Milliarden Kubikmeter jährlich. Das wäre eine Pipeline, die von den USA kontrolliert wird und die dazu dient, Russland längerfristig vom EU-Energiemarkt zu verdrängen. Vor diesem Hintergrund sind denn auch alle Einwände, Angela Merkel, die EU-Kommission und die anderen europäischen Regierungen seien vor dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Politik zur Kriegsführung gegen die Kurden im eigenen Land und in der Region sowie zur Unterdrückung der Pressefreiheit eingeknickt, von nachrangiger Bedeutung.
Am frühen Morgen des 4. April wurde das erste Schiff mit 136 abgeschobenen Flüchtlingen von der griechischen Insel Lesbos aus in die Türkei geschickt; insgesamt waren es 220. Sie wurden von Dutzenden Sicherheitsleuten begleitet. Bereits am 5. April wurden die Rückführungen wieder ausgesetzt. Flüchtlinge, die auf der Abschiebeliste standen, waren nicht mehr auffindbar, andere haben nun einen Asylantrag in Griechenland gestellt. Der muss geprüft werden; die EU-Vereinbarung sieht vor, dass es keine Gruppenabschiebungen geben soll, sondern Einzelfallprüfungen. Von den angekündigten 4.000 Grenzkontrollbeamten aus anderen EU-Ländern sind bisher jedoch nur 30 am Ort, darunter sieben aus Deutschland. Ab nächster Woche sollen die in der Lage sein, 40 bis 50 Fälle pro Tag zu entscheiden. Das bedeutet, dass allein für die Bearbeitung der 3.100 auf der Insel Lesbos gestellten Anträge zwölf Wochen nötig sind – unter der Voraussetzung, dass weitere nicht hinzukommen. Am selben Montag, an dem insgesamt 220 Migranten aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht wurden, haben die griechischen Behörden jedoch 225 neue Asylsuchende registriert. Die Abgelehnten haben dann fünf Tage Zeit, Einspruch zu erheben. Für die Prüfung dieser Einsprüche ist ein Gericht in Athen zuständig. Das verzögert die Abschiebung weiter und lässt bei den Asylbewerbern erneut Hoffnung glimmen.
Die Tatsache, dass vor dem Hintergrund der „Panama-Papers“ und der neuerlichen Anschuldigungen gegen Wladimir Putin in den Abendnachrichten von den Flüchtlingen in Griechenland kaum noch die Rede ist, sollte als beunruhigend wahrgenommen werden. Die „europäische“ Lösung, die im Kern wieder eine deutsche ist, wurde durch den EU-Gipfel Mitte März nicht erreicht. Obwohl anderes gesagt wird. Aus Sicht der CSU ist Deutschland ein Hauptnutznießer der Schließung der Balkanroute: Im Januar 2016 wurden über 90.000 Flüchtlinge registriert, im Februar über 60.000, im März etwa 20.000, während die Berliner Regierungspolitik die Schließer der Grenze in Österreich und Mazedonien öffentlich beschimpfte. So etwas nennt man Doppelmoral.
Griechenland bleibt derweil weiter auf der Bewältigung des Flüchtlingsproblems in seinem Lande sitzen. Gleichzeitig diskutieren der Internationale Währungsfonds und die EU, die griechische Regierung habe die Sparauflagen vom vergangenen Sommer nicht erfüllt und man müsse den Geldhahn mal wieder zudrehen. Dass das alles nicht zusammenpasst, wollen die politisch Verantwortlichen nicht wahrhaben. Die Schlafwandler wandeln weiter dem Abgrund entgegen.
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