von Dieter Naumann
Zu meiner Sammlung historischer Dokumente von der Insel Rügen gehört ein unscheinbares Büchlein, nicht einmal A-5-Format, zwischen dessen beiden dünnen Kartondeckeln sich 26 mit nur wenigen handschriftlichen Eintragungen versehene Seiten befinden. Dennoch widerspiegelt der von der „Kaiserlichen Marine. I. Seeflieger-Abteilung“ ausgestellte „Militärpass des Flugzeug-Matrosen Manfraß, Wilhelm. Jahresklasse: 1920“ ein interessantes Stück nicht nur rügenscher Geschichte.
August Heinrich Wilhelm Manfraß, geboren im Mai 1900 im rügenschen Woorke, Kreis Patzig, evangelisch, Arbeiter, ledig, meldete sich 17-jährig als Freiwilliger bei der Seeflugstation Bug auf Rügen (1. Seeflieger-Abteilung), erhielt die Nummer 817/17 der Marine-Stammrolle und wurde laut Eintragung in der „Startgruppe“ ausgebildet.
Über den Bug, die schmale, aber acht Kilometer lange westlichste Landzunge der Halbinsel Wittow auf Rügen, mit seiner Heide und einer Kiefernwaldung schreibt der Reiseführer Grieben noch in seiner Ausgabe von 1914-1915: „Still und friedlich liegt er da: ein Forsthaus bietet gastliche Aufnahme. Dem Wanderer ist diese Gegend noch viel zu wenig bekannt, sie verdiente […] mehr besucht zu werden.“ Mit der Idylle sollte es indes bald vorbei sein:
Ursprünglich befand sich ein sogenannter Seefliegerhorst mit Flugzeughalle, Werkstattgebäuden und Ablaufbahn bei Stralsund, erwies sich aber nach Auffassung der Marine-Luftfahrt-Abteilung in Wilhelmshaven als strategisch ungünstig. Deshalb wurde Wiek auf Rügen als ergänzender Standort ausgewählt. Bereits Anfang 1916 begann der Bau, parallel dazu wurde auch auf dem nahen Bug eine Seeflugstation errichtet. Deren Eröffnung erfolgte im Januar 1917 auf dem Markt von Wiek, der Kleinbahnanschluss folgte erst im November 1918. Der mit dem Betrieb der Station verbundene Bedarf an Nahrungsmitteln und anderen Produkten wurde von den Bewohnern des Bug und der Umgebung gern gedeckt. Weniger begeistert war die Bevölkerung vom ständigen Fluglärm. Lediglich der Lehrer von Dranske, Leutnant a.D. und Kriegsinvalide, schrieb in der Schulchronik begeistert: „Den ganzen Tag brummen die Flugzeuge […] Bomben werden auf extra dazu aufgestellte Ziele geworfen, manchmal rattert Maschinengewehrfeuer und lässt kleine und große Kampftage aus dem Völkerringen in der Erinnerung wieder auftauchen. Ein herrliches Schauspiel bieten die Geschwaderflüge.“ Seine Begeisterung war wohl nicht ausreichend, denn das Kriegsministerium hielt es angesichts wiederholter Beschwerden für „unerlässlich“, dass „eine allgemeine aufklärende Belehrung über die Bedeutung der Luftstreitkräfte und über die Erfordernisse und Eigenheiten der Ausbildung der Fliegertruppen […] Platz greift.“
Im November 1918 war allerdings auch schon Schluss mit den Aufklärungsflügen und der Ausbildung im Bombenwerfen, als Bordschütze, als Fotoaufklärer oder als Funker. Für kurze Zeit war die Seefliegerstation während der revolutionären Ereignisse 1918 von Wieker Matrosen besetzt, ehe sie gemäß Artikel 198 des Versailler Vertrages, der Deutschland eine eigene Luftwaffe untersagte, aufgelöst wurde.
Unter Position 7 („Datum und Art der Entlassung“) ist in besagtem Militärpass vermerkt: „Infolge Demobilmachung am 30. Dez. 1918 nach Rappin Bez. Kdo. Stralsund entlassen“. Manfraß hatte sich mit der Eisenbahn vom Bug bis nach Rappin zu begeben und dabei die Fahrtkosten und „seine übrigen Bedürfnisse aus den ihm diesseits mit 15 Mark […] behändigten Marschgebührnissen bar zu bezahlen“. Reiseführer Grieben vermerkt 1926: „Die während des Krieges in Wiek und auf dem Bug angelegten Seeflugstationen mussten aufgelöst werden. Die Gebäude auf dem Bug sind von dem Deutschen Beamten-Wirtschaftsbund, Berlin, gepachtet und als Erholungsheim eingerichtet, mit Rest. u. Café.“ Das Heim bestand aus drei Häusern, die bezeichnenderweise nach den Jagdfliegern Wolfram von Richthofen (späterer Stabschef der faschistischen „Legion Condor“), Max Immelmann (1916 abgestürzt) und Oswald Boelcke („Flieger-Held“ des Ersten Weltkriegs) benannt waren.
Die friedliche Entwicklungsphase dauerte nur zehn Jahre, von 1931 bis 1932 wurde der Bug geräumt. Im Reiseführer von 1935 ist zu lesen: „Der Bug ist jetzt von der Deutschen Verkehrsflieger-Schule G.m.b.H. gepachtet und als Flugstation eingerichtet.“ Diese und nachfolgende zivil klingende Einrichtungen (unter anderem die „Nautische Vermessungsabteilung, Zweigstelle der Hansa Luftbild GmbH“) befassten sich schon seit 1926 mit der heimlichen Ausbildung von Marinefliegern. Den künftigen Luftwaffenstrategen waren die getarnten Übungen im Ausland oder unter dem Deckmantel der Zivilluftfahrt längst nicht mehr genug. Schließlich mussten die im Ausland hergestellten oder als angebliche Exportaufträge getarnten Flugzeuge „endlich“ getestet werden. Zwischen 1934 und 1938 wurde das abgesperrte Gebiet völlig verändert. Im Eiltempo entstanden zeitgemäße Hangars, ein 300 mal 500 Meter großer Flugplatz, Verwaltungsgebäude, Unterkünfte (zum Teil unter Nutzung der alten kaiserlichen Kasernen), ein Heizkraftwerk, ein Kameradschaftsheim (hier traten später sogar Stars wie Marika Rökk, Evelyn Künecke und Johannes Heesters auf) und eine Kegelbahn. 1935 wurde das Objekt im Beisein Hermann Göhrings eingeweiht. In der Fliegerschule auf dem Bug wurden Piloten und Bordschützen auf den Kriegseinsatz vorbereitet, der für die hier Ausgebildeten insbesondere in bewaffneten und unbewaffneten Aufklärungsflügen bestehen sollte. Selbstverständlich wurde nicht jedermann zur Ausbildung zugelassen: Mit einer Bescheinigung musste beispielsweise Fräulein Wally R., Braut des Obergefreiten Fritz H. von der 2. Technischen Kompanie, den Nachweis ihrer „arischen Abstammung“ bis „zu den vier Großelternteilen einschließlich“ erbringen. Die Zeit der reinen Ausbildung betrachteten viele der Angehörigen des Stützpunktes und der Flugschüler vor allem im Vergleich zu den Bedingungen an Ost- und Westfront als geradezu angenehm. Augenzeugen sprachen von einem „Stück vom Paradies mitten im Krieg“. Ein Teilnehmer der Bordschützenschule schrieb auf einer im Juli 1943 an die Großeltern abgeschickten Feldpost-Karte: „Wir sitzen hier im Garten der Kaserne und haben uns ein ,kleines Freundliches‘ genehmigt. Anschließend gehen wir ins Kino. Ein herrlicher Tag ist heute, der wäre was auf dem [unleserlich] zum segeln.“
Das änderte sich schlagartig, als die Einsatzkräfte auf dem Bug im September 1944 der Seenotgruppe 81/Ostsee (SNGr. 81) zugeordnet wurden. Sie sollte zusammen mit anderen Einheiten möglichst viele Deutsche vor der heraneilenden Roten Armee ausschiffen oder ausfliegen. Nicht selten wurden die eigentlich nur für 14 Passagiere zugelassenen Dornier Flugboote völlig überladen. So stürzte eine der fünffach (!) überladenen Maschinen bei einer Evakuierungsaktion von Kamp bei Kolberg in den Kampener See, wobei alle 76 Passagiere den Tod fanden. Vom Bug aus wurden in der Endphase des Krieges nun auch Aufklärungs- und Bombenflugzeuge eingesetzt.
Ab 1946 wurden die militärischen Anlagen des Bug demontiert und abtransportiert. So blieben von dem 200 Meter langen Seekran, mit dem einst die Flugzeuge über die Brandung gehoben wurden, nur noch Fundamentstücke im Uferbereich zurück. Die Gebäude des Militärgeländes, auch die Sport- und die Schwimmhalle, wurden anschließend gesprengt.
Der Bug blieb 1947 bis 1950 zunächst unbewohnt, was der Natur in Verbindung mit Aufforstungen die Chance zur ungehinderten Ausbreitung bot. Ab 1950 wohnte ein Pensionshirte, Gustav Zingrefe („Onkel Gustav“), am Südbug, der zum Anlaufpunkt für viele Gäste wurde, hauptsächlich für Segler und Campingfreunde, die Zingrefe gern mit Korn, Bier und Bockwurst bewirtete. Längeren Bestand hatte die neuerliche Idylle, zu der von 1954 bis 1962 sogar eine Jugendherberge gehörte (anfangs mit zwei Häusern, Trockenklo und großen Gemeinschaftszelten, ohne Wasser- und Elektroanschluss), wiederum nicht.1961 bis 1965 entstand ein Stützpunkt für die 6. Flottille der Volksmarine, der 1990/91 durch die Bundesmarine abgewickelt wurde.
Der südliche Bug gehört heute zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft.
Schlagwörter: Dieter Naumann, Militärgeschichte, Nationalpark, Rügen, Seeflugstation