19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

Siegfried Lenzʼ neuer Roman und Geschichtsvergessenheit

von Helmut Donat

Überraschend brachte der Verlag Hoffmann und Campe Ende Februar 2016 den Roman „Der Überläufer“ des 2014 verstorbenen Siegfried Lenz heraus. Die Startauflage von 50.000 Exemplaren und die Vorankündigung mit einer dpa-Meldung deuten auf den Versuch hin, aus dem Buch einen Bestseller zu machen. Lenz hat mit dem Schreiben des Romans im März 1951 begonnen. Schon Ende des Sommers lag die erste Fassung als Typoskript vor, doch dann geriet es unter die Räder – aus politischen Gründen.
Otto Görner, einer der Gutachter und Lektoren bei Hoffmann und Campe und zunächst Feuer und Flamme, riet nach der ersten Lektüre zu Änderungen, „das Technische und Handwerkliche“ angehend. Nach der Wiedervorlage des Manuskriptes im Januar 1952 hatte sich der Wind gedreht und Görner verlangte von Lenz, sein Werk umzuarbeiten und hielt ihm zudem vor, ein solches Buch „hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner gewesen sein.“ Zudem würde Lenz sich mit einer Veröffentlichung nur selbst „maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht.“ Schließlich die Drohung: „Erwägen Sie nicht, etwa eine wütende Geste zu machen und ein neues Buch schreiben zu wollen.“ Da der seinerzeit noch wenig bekannte Autor nicht zu substantiellen Änderungen und einer Verwässerung der Überläufer-Problematik bereit war, lehnte der Verlag das Erscheinen der Publikation ab. Lenz akzeptierte den Nichtdruck beziehungsweise nahm ihn mit nobler Geste hin – und der Roman verschwand in der Versenkung. Was aber haftete dem Roman so Schlimmes an, dass es 65 Jahre gedauert hat, bis er – vom selben Verlag! – endlich veröffentlicht wird?
Im zweiten Teil des Romans geht es um zwei deutsche Wehrmachtssoldaten, die im Sommer 1944 an der in Auflösung begriffenen Ostfront in die Hände von russischen Partisanen fallen und sich deren Kampf gegen die deutschen Eindringlinge anschließen. Zunächst nicht ganz freiwillig, ansonsten droht ihnen, am nächsten Morgen am Bahndamm erschossen zu werden. Doch mehr und mehr betrachten sich die beiden als überzeugt, bei den Partisanen das Richtige zu tun. Wolfgang alias „Milchbrötchen“, ein blasser, schmächtiger, eher zum Nachdenken neigender und moralisch argumentierender Soldat, überzeugt schließlich auch Walter Proska, den „Held“ der Geschichte, sich ganz auf die andere Seite zu schlagen. Er vollzieht den Schritt, als Deutscher gegen Deutsche zu kämpfen, früher als sein Weggefährte Proska. Mit anderen Worten: Lenz‘ Protagonist desertiert nicht eigentlich, doch drängt es sich ihm als notwendig auf, aus freien Stücken gegen die „Klicke“, gemeint sind Hitler und dessen Führungsriege, die Waffe in die Hand zu nehmen. Mit anderen Worten: der „Herrenmensch“ verbrüdert sich – im deutschnationalen oder Nazi-Jargon – mit jenem „Abschaum“, der alles tut, um die Welt vor den Faschisten zu retten. Das alles war 1951/52, im Unterschied zu 1946 – nicht mehr gefragt und zudem noch „schädlich“, so die Behauptung im Hause Hoffmann und Campe. War das wirklich so?
Zweifellos warf der „Kalte Krieg“ mehr als nur seine Schatten voraus. Doch es gab in der Bundesrepublik zu Beginn der 1950er Jahre noch eine große Mehrheit, die mit der von Adenauer auf den Schild gehobenen Wiederbewaffnung nicht einverstanden war, ablesbar an der Rede des Bundeskanzlers, die er am 28. November 1950 in Berlin gehalten hat und in der er dem Erfinder des Wortes Remilitarisierung „lebenslängliches Zuchthaus“ wünschte. Zu berücksichtigen ist des Weiteren, dass das von Bastian Müller 1947 veröffentlichte, stark autobiografisch geprägte Werk „Hinter Gottes Rücken“ mit vier Auflagen der erfolgreichste Roman der ersten Nachkriegsjahre überhaupt gewesen ist (Neudruck 2014 im Donat Verlag). In ihm schildert Müller, wie es seinem Protagonisten Wilhelm gelungen ist, den Zweiten Weltkrieg zu überstehen, ohne jemals, auch als Soldat nicht, eine Waffe gegen einen anderen Menschen zu richten oder zu töten. Mag sein, dass Lenz‘ Partisanen-Roman Schiffbruch erlitten hätte. Aber es spricht auch viel dafür, dass er von heftigen, massenwirksamen Diskussionen begleitet worden wäre. So hat selbst die trivialisierende, zum Teil ins Anekdotische, Derbe und Unpolitische abrutschende Roman-Trilogie „08/15“ von Hans Helmut Kirst 1954 zu heftigen Kontroversen geführt. Und obwohl Franz-Josef Strauß, damals Bundesminister für Sonderaufgaben, zum Boykott des Buches aufrief und viele Buchhandlungen dem folgten, wurde die Trilogie zum Bestseller und noch im selben Jahr verfilmt.
Nicht auszudenken, was der Roman von Lenz bewirkt haben könnte. Doch Hoffmann und Campe wollte nicht anecken und ließ den Autor im Stich. Von Courage und Entschlossenheit, gegen den Strom und Regierungskurs zu schwimmen, keine Spur. Und heute?
Nachdem es in Deutschland einen grundlegenden Wandel der Mentalität zugunsten von Deserteuren oder „Wehrkraftzersetzern“ gegeben hat, die dem blutigen und mörderischen Wahnsinn die Gefolgschaft verweigerten, sucht der Verlag von der neuen Lage und dem Fortschritt, den er vor 65 Jahren behindert hat, zu profitieren. Dazu passt, dass Günter Berg, vormals Lektor bei Hoffmann und Campe und nunmehr Vorsitzender der Siegfried-Lenz-Stiftung, in seinem Nachwort mit keiner Silbe auf den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund eingeht, in dem Lenz‘ Roman unterdrückt worden ist.
Nicht einmal findet Erwähnung, dass der promovierte Germanist Otto Görner, Schüler des Nazi-Volkskundlers André Jolle und Mitglied der SS, dem NS-Regime willfährig gedient hat, so seit Ende 1937 als hauptamtlicher Referent für das gesamte Gebiet der Volkskunde im nationalsozialistischen „Heimatwerk Sachsen“ in Dresden. Da sorgt also ein ehemaliger Vertreter der Waffen-SS im Hoffmann und Campe Verlag federführend dafür, den Antikriegsroman eines deutschen Autors und Deserteurs zur Strecke zu bringen – und Günter Berg geht darüber hinweg? Wer sucht hier wen oder was zu schützen und den Mantel des Schweigens über einen handfesten Skandal auszubreiten, über deren Aufklärung die deutsche Öffentlichkeit und nicht zuletzt Siegfried Lenz selbst einen Anspruch haben?
Doch das ist noch nicht alles. So sucht man in Bergs Darlegungen nach einem Hinweis auf Wilhelm Lehmanns Roman „Der Überläufer“ vergeblich, obwohl dieser haargenau denselben Titel trägt wie der von Siegfried Lenz, was Berg seit langem wissen konnte. Mehr noch. Die beiden Schriftsteller kannten sich gut und hegten große Sympathie füreinander. Zweifellos hat auch Lenz den vor allem als Lyriker bekannt gewordenen Lehmann, der in den 1950er Jahren als Antipode Gottfried Benns galt, sehr geschätzt. 1882 geboren, in Wandsbek bei Hamburg aufgewachsen und 1905 zum Dr. phil. promoviert, unterrichtete Lehmann 1912-1917 als Lehrer an reformpädagogischen Schulen sowie 1923-1947 am Gymnasium in Eckernförde, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1968 lebte. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg machte er mit Erzählungen, später mit Romanen auf sich aufmerksam. Gemeinsam mit Robert Musil erhielt Lehmann 1923 aus der Hand von Alfred Döblin den Kleist-Preis. Zwischen 1927 und 1932 veröffentlichte er sein „Bukolisches Tagebuch“, welches an das Nature Writing der angelsächsischen Literatur anschließt. Ab 1930 publizierte er ein reiches lyrisches Werk, das ihn, so der Literaturwissenschaftler Wolfgang Menzel, zum bedeutendsten Vertreter der „naturmagischen Schule“ machte und starken Einfluss auf die jüngere Lyriker-Generation wie Günter Eich, Elisabeth Langgässer und Karl Krolow ausübte. Obwohl selbst ein Zeitgenosse wie Siegfried Lenz von Lehmanns Werk und Haltung beeindruckt war, geriet letzterer in den 1970er und 1980er Jahren in Vergessenheit. Seit etwa zehn Jahren wird es durch die Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft in Eckernförde wiederbelebt, unter anderem mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis für Lyrik und Essayistik. Preisträger waren bisher: Jan Wagner, Nico Bleutge, Ann Cotten und Stefan Wackwitz. Das Gesamtwerk von Wilhelm Lehmann ist in acht Bänden im Verlag Klett-Cotta erschienen.
Lehmanns Roman „Der Überläufer“, 1925-1927 entstanden, erzählt die Geschichte eines deutschen Deserteurs aus dem Ersten Weltkrieg. Das Manuskript konnte erst 1962 gedruckt werden. Über das Buch sagte der israelische Publizist Emanuel bin Gorion: „Ich kenne, aus der Literatur keinen radikaleren Gegner des Krieges und des Kriegsterrors als Wilhelm Lehmann im ‚Überläufer‘.“ In der Tat ist Lehmanns Schilderung einzigartig. Es gibt keine vergleichbare Darstellung, die im deutschen Sprachraum einem Deserteur-Schicksal des Ersten Weltkriegs gewidmet ist. Gleiches gilt für den „Überläufer“ – „Partisanen“-Roman von Lenz, der allerdings im Zweiten Weltkrieg spielt und nicht nur vom Erzählduktus Lehmanns stark abweicht. Inwieweit Lenz sich an einer realistischen Vorlage orientierte, ist bislang nicht bekannt. Doch wie Lehmann desertierte auch Lenz gegen Ende des Krieges. Beide gerieten jeweils in englische Kriegsgefangenschaft, der eine 1918, der andere 1945.
Anders als Lenz greift Lehmann auf seine Tagebuchaufzeichnungen zurück. Er berichtet von seiner militärischen Ausbildung, den Kämpfen an der Front, seiner Haltung zum Krieg, von der  Desertion und seinen Erlebnissen in der Gefangenschaft. Mit seiner klaren pazifistischen Haltung und unbestechlich nüchternen und zugleich poetischen Sprache nimmt sein Roman eine herausragende Stellung in der Kriegsliteratur ein. „Das Unvereinbare, Grauen und fast Normale“ – so Günter Kunert in seinem Geleitwort „Der Deserteur“ zu dem im Donat Verlag 2014 erschienenen Roman „Der Überläufer“ von Wilhelm Lehmann – „drängt sich dem aufmerksamen Beobachter wie selbstverständlich auf.“ Und: „Als ein Leser mit einiger Erfahrung kann ich Lehmann nur bestätigen.“ Ähnlich dürfte Lenz geurteilt haben. Wie Heinrich Böll, Günther Grass und auch Lehmann stand er der deutschen Nachkriegsentwicklung und Behandlung des Holocausts durch die deutsche Politik und Geschichtsschreibung kritisch gegenüber. Die neue Ostpolitik von Willy Brandt fand in ihm einen engagierten Befürworter. Als man ihm in den 1970er Jahren das Bundesverdienstkreuz verleihen wollte, lehnte er die „Ehrung“ mit dem Bemerken ab, Bürger einer Hansestadt zu sein, die sich mit Orden nicht schmücke. Der wahre Grund jedoch war – wie Grass in den Lübecker Nachrichten vom 8. Oktober 2014 versicherte –, dass viele ehemalige Nazis den Orden erhalten hatten. Stattdessen nahm Lenz im Oktober 2011 die Ehrenbürgerschaft seiner inzwischen polnisch gewordenen Geburtsstadt an.
Auch Lehmann fand – wie Lenz – für seinen „Überläufer“ keinen Verlag, was offenbar an der sehr breit geschilderten ereignisarmen Nachkriegshandlung lag. Döblin schlug daher umfangreiche Kürzungen vor, wofür Lehmann sich aber nicht erwärmen konnte. Die 2014 von Wolfgang Menzel edierte Auswahl beherzigte den Rat Döblins und beschränkt sich daher auf die Teile „Krieg“ und „Gefangenschaft“ in der Fassung von 1927. Die Botschaft lautet – wie bei Lenz: „Krieg ist etwas, das nicht mehr sein darf!“
Beider Desertion und deren literarische Verarbeitung gehören zu den wenigen Ausnahmen. Viele mögen im Schlamm und in den Unterständen, neben sich die zerfetzten Leiber ihrer Kameraden, mit dem Gedanken gespielt haben, aber die persönliche Konsequenz, sich dem Völkermorden zu entziehen, sich davor zu bewahren, andere zu töten oder selbst draufzugehen, haben nur Wenige gezogen. Dazu gehörte nicht nur Mut, denn wer das tat, begab sich nicht nur in Gefahr; er verließ nicht einfach seinen Graben, sondern er wandte sich auch dagegen, seinem „Vaterland“ weiter zu dienen. Und das war mehr als nur ein Schritt von dem einen zum anderen Frontabschnitt. Er brach damit die Verbindung zu seinem Heimatland zunächst vollends ab, ohne zu wissen, was die Zukunft für ihn bereithalten würde. Es war ein Weg ins Ungewisse. Wer desertierte oder die Partisanen unterstützte, darf mit Fug und Recht als vorbildhaft bezeichnet werden, zumal das Kaiserreich wie das Dritte Reich keinen Verteidigungs-, sondern einen Eroberungskrieg führten. Lehmann wie Lenz hatten den Krieg satt, hassten ihn und waren sich zu schade, als Kanonenfutter verheizt zu werden.
Es mutet mehr als merkwürdig an, dass all diese Dinge in dem Nachwort von Berg verschwiegen werden und er um Lehmann einen großen Bogen macht. Sollte damit eine wie immer geartete Originalität des „Überläufers“ von Lenz unangetastet bleiben? Es wäre ein mehr als schlechtes Argument und sicher nicht im Sinne von Lenz. Denn beide Autoren und Werke können nebeneinander bestehen. Sie sind ein eindrucksvolles Zeichen dafür, wie selbst in mörderischen und verbrecherischen Zeiten Literatur imstande ist, das Leben zu bewahren und die Menschlichkeit in eine neue Zeit hinüberzuretten.
Wie sehr Siegfried Lenz seinen älteren Kollegen geschätzt hat, dafür legt Lehmanns letztes Gedicht vom 4. Oktober 1968 ein beredtes Zeugnis ab:

Letzte Tage

Ausgelaufen ist der Krug.
Erde spricht, es ist genug.

Chrysanthemen hat ein Freund vors Bett gestellt,
Lockenhäupter, Würzgeruch der Welt.

Ehe meine Finger kalten,
Fühlen sie die Lust, die Stengel festzuhalten.

Halt ich so das letzte Stück der Zeit noch aus,
Bringt das große Qualenlose mich nach Haus.

Der Freund, der die Chrysanthemen vor Lehmanns Krankenbett gestellt hat, war Siegfried Lenz.