19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Einkehr des verlorenen Sohnes

von Thaddäus Faber

Armselig ist der Geist,
der immer von den Funden anderer Gebrauch macht
und sich selbst nichts ausdenkt.
Boethius

Diese Retrospektive ist einzigartig. Und doch wird sie in Kürze noch übertroffen werden. Aber der Reihe nach …
Dass die Totenglocken für Jeroen van Aken, der sich als Maler mit offenbar lokalpatriotischem Esprit nach seiner Heimatstadt Bosch (Wald) benannte und als erster Künstler am Übergang zur Neuzeit seine Bilder signierte, am 9. August 1516 läuteten, in der gotischen Sint-Jans-Kathedrale von ’s-Hertogenbosch (Wald des Herzogs) in Nordbrabant – das zumindest ist gesichert. Denn die katholische, hoch elitäre (und noch heute existente) Liebfrauenbruderschaft richtete dieses Gedenken für ihr Mitglied aus, und die Kosten dafür in Höhe von 27 Schillingen sind penibel im Kirchenbuch vermerkt. Die Herkunft van Akens aus einer zwar angesehenen, doch nicht eben wohlhabenden Malerfamilie hätte ihm den Zugang zu dieser Bruderschaft kaum eröffnet, aber er hatte in eines der führenden Patrizierhäuser der Stadt eingeheiratet. (Dessen Haus am Markt hat überdauert und beherbergt heute eine Weinstube; vis-à-vis, auf Denkmalssockel – Bosch in Lebensgröße, mit Ohrenmütze und in Bronze. Sein Antlitz allerdings – reine Phantasie. Selbstbildnisse von Bosch gibt es nicht.)
Nach seiner Heirat dürfte materieller Wohlstand zeitlebens für Bosch – anders als etwa für seine Zeitgenossen und Zunftkollegen Frans Hals und selbst Rubens – kein Thema mehr gewesen sein. Seine Zugehörigkeit zur Oberschicht der Stadt öffnete ihm ebenso wie seine Kunst den Weg zu höchsten und reichsten Auftraggebern.
Sonst aber gibt es so gut wie kein gesichertes Wissen über das Malergenie Bosch, das bis heute Menschen weltweit in seinen Bann schlägt. Weder ist sein genaues Geburtsdatum bekannt, noch ob er Kinder hatte, woran er starb oder wo sich sein Grab befindet. Ebenso wenig weiß man, warum er, Zeitgenosse von Leonardo Da Vinci, Raffael und Michelangelo, nicht wie diese auf Schönheit, Harmonie und Vollkommenheit Wert legte, ja häufig selbst nicht einmal auf exakte Anatomie, sondern so malte, wie und was er malte. Darunter seine grotesk-apokalyptischen „Wimmelbilder“, wie man sie heute nennen könnte, wäre eine knappe Charakterisierung vonnöten.
Im Hinblick auf diese Wissenslücken kann auch die vor kurzem eröffnete Retrospektive, die das Noordbrabants Museum dem größten Sohn der Stadt anlässlich von dessen 500. Todestag ausgerichtet hat, nichts Neues vorweisen. Eine Jahrhundertausstellung ist es gleichwohl trotzdem: Nur etwa 25 Tafelbilder und Triptychen sowie fast ebenso viele Zeichnungen gelten derzeit als eigenhändige Werke Boschs – entstanden ungefähr zwischen 1480 und 1516 und heute verteilt auf 18 Sammlungen in zehn Ländern. (Kein einziges Werk davon nennt die Heimatstadt des Malers ihr Eigen.) Die jetzige Exposition vereinigt den größten Teil davon – nämlich 17 Tafelbilder und Triptychen sowie 19 Zeichnungen. Im Falle des „Landstreicher“-Triptychons werden dabei die noch vorhandenen Retabeln erstmals wieder zusammengeführt: die Außentafel, „Der Landstreicher“, aus Rotterdam, die beiden ungleichen Hälften der (wahrscheinlich im 18. oder frühen 19. Jahrhundert geteilten) einen Seitentafel, „Das Narrenschiff“ aus Paris und „Völlerei und Lust“ aus New Haven, sowie die andere Seitentafel, „Der Tod und der Geizhals“, aus Washington. Hinzu kommen weitere Werkstatt- und Nachfolgergemälde.
Dem vergleichsweise kleinen Noordbrabants Museum gelang dieser Coup, indem es vor neun Jahren das bisher umfassendste Forschungs- und Restaurierungsprojekt zum Œvre Boschs (Bosch Research and Conservation Project) ins Leben rief und dafür 2,7 Millionen Euro einsetzte. Eine neunköpfige Expertengruppe (vom Kunsthistoriker bis zum IT-Spezialisten) bereiste alle relevanten Museen sowie Sammlungen und untersuchte sämtliche Werke Boschs, auch die jetzt nicht gezeigten.
Neun Werke mit zwölf Tafeln wurden restauriert. Was für den Rezensenten mit einer herben persönlichen Enttäuschung verbunden war: Als er im Spätsommer 2014 Brügge besuchte, geschah dies nicht zuletzt, um im dortigen Groeningenmuseum das Triptychon „Das Jüngste Gericht“ von Bosch zu betrachten. Die Wand aber zierte lediglich eine Leerstelle, und eine lapidare Notiz informierte: „Zur Restauration in Vorbereitung der Bosch-Ausstellung 2016“. Das Ergebnis kann nun in ’s-Hertogenbosch in Augenschein genommen werden.
Der Ansatz des Bosch Research and Conservation Projects überzeugte selbst Großmuseen, und so schickte der Madrider Prado das Triptychon „Der Heuwagen“ auf die Reise, dessen grandiose Allegorie auf die blinde Anbetung des Mammons und deren zerstörerische Folgen auch unserer heutigen Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Das Werk wird erstmals seit 450 Jahren außerhalb Spanien gezeigt. Und aus Museen in Venedig ist das „Heilige-Wilgefortis“-Triptychon mit der zarten bärtigen Märtyrerin am Kreuz ebenso zu sehen wie das „Eremiten“-Triptychon und die vier „Jenseits“-Tafeln. Unter den letztgenannten mit „Die Aufnahme der Seligen in den Himmel“ die erste überlieferte bildliche Darstellung des Eingangs von Seelen ins Paradies – aus irdischer Finsternis durch einen Kanal aufsteigenden, mild-freundlichen Lichtes.
Von den Ergebnissen des Forschungsprojektes zeigt die Ausstellung selbst allerdings nur wenig, wenn auch Beeindruckendes. So legte die Untersuchung der Tafel „Johannes der Täufer“ aus dem Museo Fundación Lázaro Galdiano (Madrid) mit modernen fototechnischen Mitteln eine komplett übermalte Stifterfigur „frei“, die nun in einem mit Überblendung arbeitenden Video sichtbar ist.
Die Experten des Forschungsprojektes nahmen im Übrigen auch üppige Neu-Zuschreibungen vor, also Einstufungen von Werken als von des Meisters eigener Hand. Das geschah allein bei acht Zeichnungen, was die Anzahl der Boschschen Blätter fast verdoppelt hat, und einer Tafel („Die Versuchung des heiligen Antonius“), die bis dato im Depot des Nelson-Atkins Museums in Kansas City geruht hatte. Zumindest einiges zur Vorgehensweise und den Kriterien der Experten bei diesen Neu-Zuschreibungen erfährt man aus dem Katalog. Für weitere Informationen kann das Internet bemüht werden.

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Angesichts der Kriegsgeschehen in der Welt, nahezu regelmäßig irgendwo stattfindender Massaker, die oft nicht einmal dann ins öffentliche Bewusstsein rücken, wenn sie Dimensionen wie in Ruanda oder Srebrenica aufweisen, angesichts archaischer Mordmethoden wie der des IS oder auch nur staatlicher Strafkataloge nach den Grundsätzen der Scharia sind insbesondere Boschs Visionen von Hölle und ewiger Verdammnis von frappierender Aktualität – nicht in religiösem, sondern in höchst irdischem Sinne: Als Menetekel der Bestialitäten und Leiden, die sich die menschliche Spezies – fortwährend und augenscheinlich unbeendbar – immer wieder selbst antut.
Aktualität aber zum Beispiel auch in Boschs Zeichnung „Das Feld hat Augen und der Wald hat Ohren“. Das Sujet entstammt einem niederländischen Sprichwort, wobei der Mensch zu Boschs Zeiten wenigstens nur Gott ausgeliefert war, der alles sah und hörte, und nicht auch noch digitalen Kommunikationsmitteln und ihrem ubiquitären Schnüffel-Gebrauch durch NSA und Konsorten. Internetkraken wie Facebook, Google und alle anderen inklusive.
Schön dass auch diese Zeichnung in der Exposition zu sehen ist, denn üblicherweise führt sie – samt etlichen anderen Bosch-Blättern – eher ein Dornröschendasein in den Archivschränken des Kupferstichkabinettes der Staatlichen Museen zu Berlin. Diese Zeichnung gibt uns zugleich das einzige verbürgte Indiz für Boschs Credo und Bildungsstand an die Hand: Im obersten Bereich des Blattes findet sich der eingangs zitierte Sinnspruch, und Bosch hat ihn in Latein scribiert.

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Einige Hauptwerke des Malers fehlen in ’s-Hertogenbosch – so die Triptychen „Der Garten der Lüste“ und „Die Anbetung der Heiligen drei Könige“, die im Prado beheimatet sind, sowie „Die Versuchung des Heiligen Antoniusdes Museu Nacional de Arte Antiga in Lissabon. Um diese und weitere Werke erhöht wird die jetzige Ausstellung ab 31. Mai im Prado in Madrid zu sehen sein.

Noch bis 8. Mai: „Jheronimus Bosch. Visionen eines Genies“, Noordbrabants Museum, ’s-Hertogenbosch (Niederlande); Dienstag – Sonntag 9:00 – 19:00 Uhr, Montag geschlossen. (Es empfiehlt sich, Karten rechtzeitig im Vorab via Internet zu erwerben, da Tageskarten vor Ort unter Umständen ausverkauft sind.) Der sehr informative Katalog (auch auf Deutsch) kostet 24,95 Euro.