von Heino Bosselmann
Das einstige Land bekannter Naturwissenschaftler und Ingenieure gibt es ebenso wie das vormalige Buch- und Leseland nur noch als Restbestand hochqualifizierter Eliten, kaum mehr aber im Sinne einer breiten „Volksbildung“. Bilanz der bundesdeutschen Schulen zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Zwanzig Prozent funktionale Analphabeten bei den unter Fünfzehnjährigen. Das ist politisch nirgendwo Thema. Mehr muss man nicht wissen, um die Situation einschätzen zu können, denn im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) dürften die Bestandsverluste ähnlich gravierend sein.
Offenbar reichen dank digitaler Informationssysteme immer weniger Spezialisten in Industrie, Technik, Medizin und Recht aus, um eine immer größere Verwaltungsmasse von Discounter-Konsumenten zu versorgen. Den Rest besorgen die globale Arbeitsteilung sowie die Unterhaltungsindustrie der TV- und Computermedien, die den Stumpfsinn der vielen Abgekoppelten kunterbunt zu unterhalten weiß – nicht zuletzt mit dem Effekt, dass die vielbeschworene Demokratie und die hochgehaltenen Grundrechte immer mehr Heranwachsenden völlig einerlei sind, solang nur der Super-Markt pünktlich öffnet und rund um die Uhr alle Screens bewegte Bilder zeigen.
Man erinnere sich: Wer hüben wie drüben eine Schule durchlief, der konnte im Ergebnis einer auf Inhalte und anwendungsbereite Kompetenzen orientierten Pädagogik, der es an Erziehung, also an Haltungen wie Anstrengungsbereitschaft, Selbstüberwindung und Leistungsorientierung gelegen war, nach zehn Jahren grundsätzlich richtig lesen, schreiben und rechnen; und er hatte den Eingang in die Welt der Natur- und Geisteswissenschaften gefunden. Erwies er sich als talentiert, erarbeitete er sich das Abitur, damals noch ein „Reifezeugnis“, das heute kraft inflationierter Benotung als „Abi“ noch jedem ausgestellt wird, der einigermaßen aufgeschlossen die Oberstufe besucht. Die Bildungspolitik hat überdies das Kunststück vollbracht, immer eingeschränktere Fähigkeiten im Zensurenbild als immer bessere auszuweisen. Weil beispielsweise elementarsprachliche Fehlerquoten in Abituraufsätzen keine Rolle mehr spielen, sind so viele „Einserschnitte“ wie noch nie möglich. Alle sind über diese ungedeckten Schecks zunächst erfreut, dann aber verblüfft über hohe Abbruchquoten beim Studium.
Aber selbst für jene, die wenig wollen und wenig können, gibt es seit den Bologna-Reformen den Bachelor. Nicht mal Promovenden dürften beim Weg zum Doktor mangelndes Vermögen im Lesen und Schreiben sowie fehlende Allgemeinbildung im Wege sein. Das Prinzip Betreuung reicht bis zu höchsten Abschlüssen, schon weil die Politik meint: Mehr Abi, mehr Job! Was nicht funktioniert, wird eben dekretiert. Wer etwas nicht schafft, gilt als überfordert und gestresst. Da lässt sich rücksichtsvoll Abhilfe per Nachhilfe schaffen.
Es geht nicht allein um das Lesen und Schreiben als elementare Voraussetzung für die Teilhabe an Kultur und Demokratie; klare Grammatik der Sprache ermöglicht erst die Klarheit der Gedanken, ganz abgesehen davon, dass sich Persönlichkeit zwar zunächst durch das „Outfit“, danach jedoch sogleich über Sprache ausweist. Die Curricula aber sind ausgedünnt. Wer immer noch von der Substanz des Wissens und Könnens ausgeht, wer auf das Lernen, Üben, Systematisieren und Wiederholen setzt, also Inhalte und echtes Können sichern will, wer all den Methoden wie Frei-, Gruppen- und Projektarbeit sekundäre Bedeutung zuweist, gilt schon lange als antiquiert oder gar reaktionär. Im Netz grassiert unter selbsterklärt „Linken“ das böse Wort vom „Grammatikfaschisten“ für jene, denen es um Sprachpflege zu tun ist.
Nur ein kennzeichnendes Phänomen: Die Schulbuchverlage halten kaum mehr Lesebücher bereit, da ja alles – und viel besser! – „integral“ zu behandeln wäre, vorzugsweise in Lehrbüchern, die exemplarisch das eine und das andere in einem hyperkinetisch aufgeregten Layout vereinen. – Das Gymnasium funktioniert längst als neue Gesamtschule; und wer es nicht bis dort bringt, bekommt an den „Reste-Schulen“ mit Fördervereinbarungen Nachteilsausgleiche gewährt, die ihn zur vermeintlichen „Berufsreife“ führen – einem dieser euphemistischen Begriffskonstrukte, von denen es in der „Bildung“ eine Menge gibt, weil sie politisch zu einer Anthropologie verdonnert ist, die allen alles zutraut, wenn nur die richtige Methode in Anschlag gebracht wird. Überhaupt erscheint das Politische gerade wieder wichtiger als das konventionell Unterrichtliche. Wesentlicher, als eine Schule für das Lesen und Schreiben zu sein, ist es, andere Titel nachzuweisen: Schule gegen Rassismus und Gewalt – Schule mit Courage, Schule gegen Homophobie, Schule für Demokratie und gegen Extremismus, Europäische Schule und so weiter und so fort. Ganz so, als gäbe es Schulen, die je das Gegenteil dessen wollten. Eine echte Schule für Demokratie wäre jene, die ihre Schüler anspruchsvoll auf ein Leben vorbereitet, in dem nun mal permanent zu lernen, zu arbeiten und kritisch zu urteilen ist. Diesem Anspruch wird die Schule im Allgemeinen nicht mehr gerecht. Deswegen erfindet ihr die Politik ersatzweise neue und schicke Etikettierungen.
Klar, es gibt Korrekturprogramme, und Excel-Tabellen rechnen längst von selbst; nur sollte, wer mit Texten oder Gleichungen umgeht, ein Grundverständnis von dem haben, was er da tut. Gewissermaßen mit Verstand und Augenmaß. Das Leben selbst ist kein Computerspiel.
Woher aber rühren all die kognitiven und sprachlichen Defizite, die wieder und wieder getestet und an denen dann mit immer neuen Programmen und Initiativen laboriert wird? Ein Drittel aller Erstklässler in Mecklenburg-Vorpommern hätte gravierende Sprachstörungen, schrieb jüngst die Rostocker Ostsee-Zeitung. Schon gibt es Klassen, in denen zwei Drittel der Schüler irgendeine „Diagnose“ mitbringen: Legasthenie und Dyskalkulie ohnehin, weil für diese Zuschreibungen schon schwache Rechtschreibung und problematische Matheleistungen ausreichen, ferner „sozial-emotionalen Förderbedarf“ und ebensolchen im Lernen, immer gestaffelt nach präventiver oder dringlicher Förderungssituation. Für diese Kinder gibt es „Förderpläne“, viel beschriebenes Papier in anwachsenden Aktenordnern, mit dem Ziel, sie gemäß der als Segnung dargestellten Inklusion irgendwie durchzuziehen und einen Abschluss zu ermöglichen, der den Anschein erweckt, sie wären sehr erfolgreich gewesen und könnten diese Bilanz in der Arbeitswelt fortsetzen.
Man lese bitte die „Standards der Diagnostik für die Schulen Mecklenburg-Vorpommerns“, stolz verteilt vom Kultusministerium und im Internet aufrufbar. Es finden sich darin eine Menge bizarrer Beschreibungen wie etwa das „maladaptive Verhaltensmuster in Abweichung von kultur- und zeitspezifischen Normen mit organogenem und milieureaktiven Ursachen“. Man weiß danach, was an den Schulen los ist. Sie reduzieren sich mittlerweile weitgehend auf ein sozialpädagogisches Betreuungsprogramm mit minimalstem Bildungsanspruch, so dass man sich darüber wundert, weshalb immer noch etwa zehn Prozent ohne Schulabschluss bleiben, wo doch für die Attestierung“ der Berufsreife nicht etwa Prüfungen zu bestehen wären, sondern physische Anwesenheit völlig ausreicht.
Aber nicht nur die Probleme verlangen nach Diagnosen, sondern umgekehrt konstituieren die Diagnosen die Probleme in der Art selbsterfüllender Prophezeiungen. Da die einstigen Förderschulen fatalerweise aufgelöst wurden und sich deren Lehrkräfte den Regionalschulen irgendwie als Reisekader beigeordnet finden, bedarf es eines gewissen Anteils von „Förderungen“ schon als Arbeitsbeschaffungsprogramm. Man scannt ganze Klassen mit diversen Tests daraufhin ab, wer denn wohl eine Auffälligkeit zeigen könnte, die eine sonderpädagogischen Betreuung rechtfertigt. Statt erzieherisch Haltungen auszubilden, aus denen heraus Schüler motiviert und anstrengungsbereit Herausforderungen annehmen, werden sie zu Fällen für die Fördervereinbarung, in deren Folge ihnen zugetragen wird, was sie sich selbst erarbeiten müssten, um ihr Können auszuprobieren, praktisch einzuüben und stolz auf den eigenen Erfolg zu sein.
Um Erziehungsziele wie Ausdauer, Bedürfnisaufschub, Konzentration und Gründlichkeit geht es in all den Handreichungen des Ministeriums nirgendwo. Stattdessen schrumpft der Heranwachsende zum Förderfall, der nach Jahren des „erhöhten Präventionsbedarfs“ überhaupt nicht mehr in der Lage ist, aus eigenem Anspruch und mit eigener Kraft und Selbstvertrauen zu arbeiten. Die „Maßnahmekarrieren“ des Jobcenters beginnen mit dem Hospitalismus der Ganztagsschule, deren fragwürdige Aufgabe es neuerdings ist, Limitierungen und Verhaltensstörungen eher zu betreuen, als Wege zu weisen, wie ein junger Mensch selbstständig und erfolgreich leben könnte, wenn er innerhalb einer zehnjährigen Schulzeit eine Idee vom eigenen Selbst entwickeln würde und dazu über Fähigkeiten verfügte, die ihn auf sein eigenes körperliches und geistiges Vermögen sowie idealerweise auf seine Talente vertrauen ließen. So wie viele Kinder sichtlich physisch degenerieren – man frage Sportlehrer –, retardieren sie geistig. Nicht trotz, sondern wegen des Bildungssystems.
Kinder wollen von Natur aus jedoch eher gefordert als gefördert sein. Die psychologische Diagnostik sollte echten Problemfällen vorbehalten bleiben, die sich nicht zu helfen wissen. Der Heranwachsende kann aber genau das lernen, wenn er dazu erzieherische und didaktische Impulse erhält. Ein Förderfall wird meist ein Förderfall bleiben – in der Schule wie im Leben.
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