19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Danke, Lisa!

von Heino Bosselmann

Grund-Schule: Mein wichtigstes Vermögen verdanke ich einer einzigen Person, meiner Grundschullehrerin Lisa P., einer einfachen Frau aus Kleinow in der Westprignitz.
Vor Jahren fuhr ich an meinen einstigen Prignitzer Heimatort, um mich von ihr zu verabschieden. In der DDR-Grundschule, der sogenannten Unterstufe, hatte sie mir von 1970 bis 1974 das Lesen und Schreiben, das Rechnen und die „Heimatkunde“ in einer Weise vermittelt, wie ich es für mein Leben nutzen und entwickeln konnte, ganz abgesehen davon, dass sie mir darüber hinaus zweierlei Entscheidendes als Wert nahebrachte – Natur und Arbeit. Vergessenes Kapitel einer ganz anderen Bildungsgeschichte in einem ganz anderen Land.
Zu Beginn der trügerisch stabil anmutenden DDR-Siebziger sorgte diese Frau für all das, was moderne Pädagogik neuerdings als „Schlüsselkompetenzen“ zu bezeichnen versucht, über die jedoch nur noch eine Minderheit verfügt und derer man nicht mehr zwingend bedarf, weil im Schriftlichen schon als richtig gilt, was irgendwie verstanden werden kann. Etwa so, wie mittlerweile bloßes Meinen beansprucht, bereits ein Urteilen zu sein.
Wir waren über dreißig Kinder in der Dorfschulklasse und wurden mit natürlicher Autorität durch einen systematisch aufbauenden Lehrplan geführt, der heute als schlimme Überforderung erschiene, und bekamen vom ersten Tag an Zensuren, die neuerer Erziehungswissenschaft als diskriminierend gelten würden. Wir standen morgens vor der Lehrerin, sangen ein Lied und zogen dann ohne jeden Schwund Unterricht durch. Nachmittags trafen wir uns mit ihr im Werkraum zum Bau von Vogelhäusern, zu Arbeitseinsätzen auf den Feldern der Genossenschaft, zum Pflanzen von Kiefern in der Forst oder im Herbst zum Sammeln von Eicheln und Kastanien für die Winterfütterung des Wildes. Sich an diese Erlebnisse zu erinnern wird den meisten als bedenkliche Ost-Romantik gelten, aber wir bedurften nun mal weniger der inszenierten „Projekte“ hinter Glas, weil wir gebraucht wurden und so am Leben selbst teilhatten: Erlebnis und Bewährung.
Ich sehe in dem damals erworbenen Vermögen, im Erlernen der Muttersprache und dem Arbeitsethos die wertvolle Grundlage aller Fähigkeiten, die ich später erwerben konnte. Meine Lehrerin Lisa P., der ich in persona den ersten Zugang zur Bildung verdanke, damals so streng wie verbindlich wie herzensgut, stand bei meinem letzten Besuch vor ihrem 81. Geburtstag und starb zu Hause an Krebs, betreut mit intensivmedizinischen Maßnahmen, nachdem sie vom Krankenhaus als unheilbar entlassen worden war.
Ich sah meine Verpflichtung darin, mich von ihr zu verabschieden, aber mir grauste ehrlich gesagt davor. Ja, ich hatte mich wegducken wollen und versuchte das mit dem feigen Gedanken zu legitimieren, dass ich sie doch in besserer Erinnerung behalten könnte, wenn ich sie nun gerade nicht sterbend sah. Aber stattdessen stärkte ich mich morgens mit einem langen Lauf die alten Kindheitswege entlang und brach dann zu ihrer mir noch vertrauten kleinen Wohnung auf. Ein schwieriger Gang.
Sie hatte als Landarbeiterkind in der Sowjetischen Besatzungszone Abitur gemacht, in einer Zeit, als das für Mädchen kaum üblich war. Sie war dazu mit einem alten Rad täglich vom Dorf in die Stadt gefahren, weil noch keine Schulbusse eingesetzt waren. Sie wurde Grundschullehrerin, heiratete einen Obstplantagenbesitzer, der nach seiner Enteignung nicht vom Fusel loskam, sie trennte sich daher und ließ es dann mit den Männern; dafür arbeitete sie Jahrzehnte und bis nach der Rente durch.
Ich konnte mir keine bessere Lehrerin vorstellen, obwohl sie in ihrer puritanischen Sprödigkeit alles entbehrte, was gegenwärtig zur süßlichen Grundschulkultur gehört. Umso mehr galt uns jedoch ihr Lob, wenn wir es mal bekamen, umso mehr erfrischten uns ihre Ermunterungen. Ihre Herzlichkeit war echt und nicht angeschminkt. In meiner Erinnerung riecht die Dame immer noch nach Rügener Schultafelkreide.
Mit ihren damaligen Methoden dürfte sie sich heute der Elternklagen, Amtsbeschwerden und Disziplinarverfahren gewiss sein. Hatten wir uns daneben benommen oder gelogen oder hatten wir eine Übung nach mehrfacher Wiederholung immer noch nicht begriffen, dann setzte es durchaus was. Darin folgte sie ganz den Maßstäben, mit denen sie selbst auf einem ostelbischen Gutsdorf aufgewachsen war. Man muss derlei Härten nicht verklären, man sollte sie aber ebenso wenig verteufeln. Keiner wurde geschlagen, aber schon mal derb angefahren. Jedenfalls registrierten wir: Oh, jetzt will sie aber, dass wir uns ändern und anstrengen. Unbedingt, prinzipiell, kategorisch, rigoros. Ohne Erläuterungen: Los jetzt!
Ich war auf den Anblick des unmittelbaren Todes, also auf etwas Elendes und Schockierendes eingerichtet, ich hatte mich dazu gerüstet, gerade weil ich der Frau das letzte Mal als resoluter Siebzigerin begegnet war. – Aber ich traf eine Sterbende, die klar sah und die, gezeichnet und abgezehrt von der Krankheit, beinahe, ja, jünger wirkte, fast etwas mädchenhaft, vielleicht wirklich unbeschwert. Das Gesicht bleich, aber eben gar keine Spur von Leid, Elend, Kummer oder gar Angst darin, sondern nur Frieden, Lebensweisheit, Würde, innere Schönheit, wie verhangen von einem ätherischen Schleier. In unserem Gespräch spielte der Tod gar keine Rolle, weil er wie selbstverständlich sowieso allzu gegenwärtig war.
Die Dame erzählte von ihrer Kindheit auf einem Büdnerhof in Kleinow-Ausbau, von ihrem Abitur 1948, von ihrer ersten Lehrerstelle. Ich bedankte mich noch einmal für alles; aber ich blieb konsequent im Präsens, wenn es um sie und um mich ging. Der Dank wurde dezent abgewehrt. Preußische Bescheidenheit: Habe meine Pflicht getan, und das gern. Der eine nimmt aus dem Unterricht etwas mit, der andere weniger; ich hätte eben Glück gehabt. So in der Art. Danach Geplauder, so als wäre nichts weiter, während allerlei im Zimmer installierte Apparate tickten.
Wir hatten uns wohl an die zehn Jahre nicht gesehen, und mir war klar, es würde an ein Wunder grenzen, wenn wir uns je wieder im Leben begegnen könnten. Insofern wusste ich überhaupt nicht, wie ich mich verabschieden sollte. Aber sie baute mir dazu die Brücke: Sie wäre ein bisschen müde, wolle ein wenig schlafen, ich könne ihr ja noch etwas Tee eingießen und dann ruhig gehen. Sie hätte sich sehr gefreut. Es wäre jetzt gut.
Ich bin in meinem Leben noch nie so beeindruckt aus einem Zimmer gegangen und schloss leise, sehr leise und aufmerksam die Tür. Und ich war überhaupt nicht erlöst, da raus zu sein. Eigentlich hatte ich sogar noch bleiben wollen. Aber es war jetzt ja gut so, hatte die alte Dame gesagt.