von Klaus Müller
Als erstes Land in Europa führte Schweden vor 355 Jahren Geld aus Papier ein. Es waren dies die Banknoten der Stockholms Banco, die Johan Palmstruch mit staatlicher Genehmigung in den Umlauf brachte. Sie ersetzten die schweren Kupfermünzen, die Königin Christine (1632-1654) hatte prägen lassen und die bis zu 20 Kilogramm wogen. Sie wurden im Keller aufbewahrt, um die Statik des Hauses nicht zu gefährden. Die erste Banknote erleichterte die Zahlungen.
Aktuellen Trends zufolge könnten die Skandinavier auch die ersten sein, die das Bargeld wieder abschaffen. In den Bussen und Straßenbahnen der meisten Städte wird Bargeld nicht mehr akzeptiert. Tickets werden vorab gekauft oder per SMS. In immer mehr Geschäften ist ohne Kreditkarte kein Einkauf mehr möglich. Bankfilialen haben auf digitalen Zahlungsverkehr umgestellt. Die Schweden bezahlen nur noch 20 Prozent der Einkäufe mit Bargeld, die Niederländer 37 Prozent, die deutschen Verbraucher mehr als die Hälfte. Mit der in weiten Teilen des Volkes unbekannten EU-Geld-Richtlinie (2009/110/EG) soll der Weg frei werden für „innovative und sichere E-Geld-Dienstleistungen“ ohne Bargeld. Die EU fordert für alle Bürger der Mitgliedsstaaten die „elektronische Geldbörse in Form einer Zahlungskarte oder einer anderen Chipkarte“ sowie „als Speichermedien für E-Geld […] außerdem Mobiltelefone (mit denen auch bezahlt werden kann) und Online-Zahlungskonten“. Schritt für Schritt wird in der EU das Bezahlen mit Bargeld erschwert, Noten und Münzen aus dem Zahlungsverkehr genommen. Obergrenzen für die Benutzung des Bargeldes gibt es in zwölf europäischen Staaten. Sie schränken seine Anwendung ein. Ein- und Zwei-Cent-Münzen weg, 500-Euro-Scheine ade – folgt bald das ganze Bargeld?
In Japan stößt das mobile Portemonnaie seit langem auf eine hohe Resonanz. Eine weitere Ausbreitung ist gewiss. Auch in Skandinavien, Deutschland, der Schweiz, Österreich und anderen Ländern hat die Zukunft begonnen. Findige Unternehmer treiben die Entwicklung voran. Smartphones werden zu mobilen Kreditkartenterminals. Die neue Technik erlaubt es den Kunden, in Echtzeit über ihre Handys Geld von ihren Konten zu überweisen. Das neue Bezahlsystem funktioniert über eine App, die man auf seinem Smartphone installieren muss. Dann wird die Zahlfunktion aktiviert. Es folgt eine mehrstufige Anmeldung, bei der die Bankdaten abgefragt werden. Man wählt einen vierstufigen Code. An der Kasse öffnet der Kunde die App, wählt „Coupon einlösen und bezahlen“ und gibt seine PIN ein. Auf dem Display erscheint eine vierstellige Zahl. Der Kunde nennt sie der Kassiererin. Diese gibt die Zahlen in die Kasse ein. Verfügbare Coupons wie Rabatte, Gutschriften und ähnliches werden automatisch berücksichtigt. Der Betrag wird im Lastschriftverfahren abgebucht. Auf dem Handy werden keine Kontodaten gespeichert. Zur Sicherheit kann das Rechnungsvolumen pro Woche begrenzt werden. Über die App können auch Kassenbons vergangener Einkäufe eingesehen werden. Möglich ist auch, dass auf dem Kassensystem des Händlers neben dem Namen des Kunden ein von ihm auf der App hinterlegtes Foto erscheint. Der Käufer autorisiert sich, indem der Händler ihn mit dem Profilbild vergleicht. So wird das mobile Telefon zur Geldbörse und ersetzt die Geld- und Kreditkarten. Diese Entwicklung wird niemand aufhalten, mögen die Deutschen auch noch so sehr in ihre Banknoten und Münzen verliebt sein.
Die Zurückdrängung des Bargeldes hat Vorteile. Sonst würde nicht der Zahlungsverkehr unter den Geschäftsleuten seit fast zwei Jahrhunderten weitgehend ohne Bargeld auskommen. Der englische Ökonom John Fullarton, den Marx als Geldtheoretiker schätzte, erwähnt im Jahre 1845, wenn auch skeptisch, Überlegungen von Norman und Loyd. Danach würden neun Zehntel aller Geldgeschäfte ohne Dazwischenkunft eines Tauschmittels durch Aufrechnung bargeldlos mittels Buchgeld durchgeführt.
Als Vorwand für die Zurückdrängung des Bargeldes dienen Bedienungsschwierigkeiten und Ausfälle an Geldautomaten. Geldwäsche, Geldfälschungen, Schwarzarbeit, Steuerhinterziehungen würden eingedämmt, gebe es kein oder nur noch wenig Bargeld. Die Abschaffung des Bargeldes wäre ein Schlag gegen den Terrorismus. Eine drollige Logik! Natürlich: Seit Postkutschen nicht mehr übers Land holpern, haben Überfälle auf sie schlagartig aufgehört. Wo es kein Bargeld gibt, kann es keiner stehlen. Ebenso könnte der Autoverkehr eingeschränkt werden, um die Zahl der Unfälle zu senken. Mein Chefarzt hatte mir tatsächlich vorgeschlagen, den gesunden Blinddarm zu entfernen – ich bin privat krankenversichert (!) –, schließlich könne er sich ja irgendwann einmal entzünden. Mit der Unterbindung der Bargeldzahlungen kann man, wenn man Glück hat, bestimmte Formen der Kriminalität bekämpfen, nicht aber das Verbrechen an sich. Wer glaubt ernsthaft, Terroristen zögen sich sanftmütig in ihr Versteck zurück, nimmt man ihnen das Bargeld? Sie umgehen doch längst die offiziellen Zahlungswege.
Neue Techniken bringen neue Unsicherheiten. Angriffe auf Geldtransporter und Banküberfälle werden abgelöst von Attacken im Netz. Können Hacker in die Geldbörse blicken und sich daraus bedienen? Ohne eine Antivirensoftware sollten die Besitzer ihr Handy-Zahlgerät nicht nutzen. Das gilt auch für das kontaktlose Zahlen mittels Geld- und/oder Kreditkarte: Karten sollten in „pacsafes“ aufbewahrt werden. Das verhindert wie die Antivirensoftware einen unbefugten Zugriff, aber beim Zahlen muss die Karte dann doch aus dem sicheren Versteck heraus. Prophetischer Gaben bedarf es nicht: Kriminelle Intelligenz wird Wege finden, die Hürden, die man ihr in den Weg stellt, zu umgehen. Auch ohne Bargeld wird getrickst, betrogen, geraubt werden. Das ist sicher wie das Amen von der Kanzel.
Kritiker äußern noch andere Bedenken: Die Abschaffung des Bargeldes gleiche einer generalstabsmäßigen Freiheitsberaubung der Menschen, einem Terroranschlag des Finanzsystems gegen die Völker. Bargeld ist geprägte Freiheit, sagte Dostojewski. Geht das Bargeld, gehen Freiheit und Anonymität. Wer nicht spure, werde durch ein Abschneiden vom Zahlungsverkehr in seiner Existenz zerstört. Die Maßnahme diene der weiteren „Stabilisierung“ der Banken und ermögliche die umfassende Kontrolle aller Geldströme, die lückenlose Kontrolle über alle Menschen. Banken können nicht mehr Pleite gehen, wenn sie von Bargeldzahlungen entbunden sind. Leicht könnten sie ihren Kunden Negativzinsen berechnen, wenn diese nicht mehr auf Bargeld ausweichen können. Der gläserne Mensch – er wird noch durchsichtiger. George Orwell hat mit seinem Roman „1984“ die Zukunft vorausgesagt. Die totale Kontrolle der Menschen wird angestrebt, dafür ist jeder erfundene Vorwand recht. Die Experten der Manipulation verstehen ihr Handwerk: Angst machen und Wunder versprechen. Das wirkt. Seit Rotwein angeblich die Herzen stärken soll, wofür jeglicher wissenschaftlicher Beweis fehlt, ist der Konsum stark gestiegen; selbst Alkoholgegner wollen mit Rotem ihr Leben verlängern. Appelle, mehr zu trinken – drei Liter Wasser täglich! – nützen vor allem der Getränkeindustrie.
Den Menschen muss die besiegelte Trennung vom geliebten Bargeld erleichtert werden. Deshalb verkündet Mastercard: „Bargeld ist eine eklige Angelegenheit.“ „Wissenschaftliche“ Studien werden nachgereicht: „26.000 potenziell gesundheitsschädliche Bakterien tummeln sich demnach auf einer durchschnittlichen europäischen Banknote. Und zwei Drittel der Europäer seien überzeugt, dass der Umgang mit Münzen oder Banknoten unhygienisch ist.“ – so die Freie Presse im vergangenen Jahr. Paypal-Technologievorstand James Barrese in der Berliner Zeitung: „Jede Münze und jeder Schein ist durch Tausende Hände gegangen. Und dann nimmt sie die Verkäuferin in der Bäckerei in die Hand und fasst dann wieder das Brot an. Das ist doch ekelhaft.“ Verhalten sich die Deutschen weiter störrisch, werden bald die ersten Zahlen über schwererkrankte Bargeldbenutzer bekanntgegeben. Und danach die Todesopfer, bis auch der letzte begreift, dass er seinen Blauburgunder mit der Kreditkarte zu bezahlen hat.
Hauptgrund für den Kampf gegen Noten und Münzen: Die Bargeldlogistik ist richtig teuer. Die Bearbeitung der Bargeldvorgänge samt Zufallskleingeldverlusten kostet die Amerikaner eine Milliarde Dollar jährlich, schreibt Dietmar Dath. Ludger Gooßens, Vorstandmitglied des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes sagt, die Bargeldlogistik belaste die Sparkassen mit jährlich 1,1 Milliarden Euro, „ein dicker Brocken“. Bundesbank-Vorstand Carl-Ludwig Thiele sagt, seine Bank prüfe jährlich 15 Milliarden Banknoten auf Echtheit und ob deren Zustand noch gut ist. Die Notenbank bewege im Jahr 15.000 Tonnen Geldscheine. Und damit soll in absehbarer Zeit Schluss sein. Kosten runter, Profite hoch! Darum geht es.
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