19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Merkel-Dämmerung?

von Bernhard Romeike

Derzeit wird wieder allenthalben das Ende der EU beschworen. „Scheitert der Euro, scheitert die EU“, hieß es gestern. Das war der Begleittext zur „Griechenland-Krise“. Heute tönt es: „Scheitert Schengen, scheitert die EU“. Es ist die Begleitmusik zur derzeitigen „Flüchtlingskrise“.
Dabei war zunächst unklar, ob die Drohung mit dem Scheitern der EU, die aus dem Ende des Schengen-Abkommens angeblich folgt, ein Argument für den Verbleib von Angela Merkel im Bundeskanzleramt sein sollte, oder eher dagegen. Schaut man unbefangen in die Medien, entsteht der Eindruck: So viel Ende war nie. Zumindest nicht seit dem Wegschreiben des einstigen Bundespräsidenten Wulff. Joachim Gauck, der jetzige Bundespräsident, hat in seiner Rede auf dem Weltforum der Wirtschaftsmächtigen in Davos am 20. Januar zwar dem Worte nach die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin verteidigt und die Osteuropäer ob ihrer Hartherzigkeit gescholten. Aber die Kernaussage war: „Grenzschließung kann moralisch geboten sein.“ Das war denn auch die Botschaft, die die großen Medien in Deutschland aus der Gauck-Rede herauslasen. So aber war Merkels moralischer Anspruch hinsichtlich ihrer Politik herabgeholt auf den Boden politischer Entscheidung.
Der Spiegel titelte am 23. Januar mit verregnetem Merkel-Bild: „Die Einsame“. Das Motto der Talkrunde bei Frank Plasberg „Hart aber fair“ am 25. Januar lautete: „Angezählt – wie viel Zeit bleibt Angela Merkel noch?“ Die eigentlich gestellte Frage konnte zwar nicht beantwortet werden, aber Christian Lindner, der FDP-Parteichef ging mit der Kanzlerin hart ins Gericht: Sie leide an Realitätsverlust und habe das Land ins Chaos gestürzt. CDU-Urgestein Elmar Brok, dem hier der Part des Merkel-Verteidigers zugewiesen war, monierte, das sei „AfD“. Aber möglicherweise ist das genau die Chance: Die FDP zieht jene bürgerlichen Wähler wieder an, die von Merkels Flüchtlingspolitik genug haben, AfD jedoch wegen ihrer Rechtslastigkeit nicht wählen mögen. Bei diesem Auftritt hatte Lindner die Emnid-Umfrage vom Wochenende im Rücken, wonach die AfD mit zehn Prozent bereits drittstärkste Partei wäre, die Christdemokraten 36 Prozent erhielten, SPD 25, Linke und Grüne je neun, aber die FDP auch wieder auf fünf Prozent käme.
Der „Internationale Frühschoppen“ am 24. Januar hatte den sinnigen Titel: „Merkel allein zu Haus? Scheitert Europa an Deutschland?“ Die Schlussfrage, ob Merkel es noch einmal schaffen werde, beantwortete Gerard Foussier aus Frankreich nach kurzem Überlegen mit „Ja“, während die polnische Journalistin Aleksandra Rybinska „Nein“ sagte und hinzufügte, es werde im Chaos enden. Genau das will nun der CSU-Vorsitzende Seehofer abwenden, zumindest sagt er so. Am 26. Januar wurde die Kanzlerin per Fax und per ordentlichem Brief darüber informiert, dass es „Ansprüche“ der Bayerischen Staatsregierung an die Berliner Politik gebe. Anderenfalls werde es eine Klage gegen die derzeitige Flüchtlingspolitik vor dem Bundesverfassungsgericht geben. Grundlage ist ein Rechtsgutachten des früheren Verfassungsrichters Udo di Fabio.
Dabei geht es zunächst um die wirksame Sicherung der EU-Außengrenzen und die Anwendung der sogenannten Drittstaatenklausel. Danach kann ein Flüchtling, der aus dem sicheren EU-Land Österreich kommt, in Deutschland nicht Asyl beantragen. Tatsächlich hatte Österreich in den Turbulenzen seit dem Sommer Flüchtlinge durchgewinkt, wenn sie erklärten, sie wollten in Deutschland Asyl beantragen, nachdem sie zuvor in Griechenland und anderen, auch Nicht-EU-Ländern durchgewinkt worden waren. Merkels Entscheidung, die Flüchtlinge, die vor Ungarn am Zaun standen, in Deutschland aufzunehmen, hatte in der Tat keine Grundlage im geltenden EU-Recht. Der Versuch, im Nachgang die Zustimmung der anderen EU-Länder zu diesem Schritt und dann auch eine Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU zu erlangen, konnte daher nur auf der Grundlage eines Bittgesuchs, nicht unter der Voraussetzung geltenden Rechts unternommen werden. Da nun Österreich beschlossen hat, seine Außengrenze mit nationalen Mitteln zu sichern und Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen festzulegen, nachdem auch Schweden und Dänemark derartige Schritte gegangen waren, stieg der Druck, dies auch deutscherseits zu tun.
In die Fernsehkameras hatte der CSU-Chef gesagt, es gehe um die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, die Rechtsverletzungen müssten abgestellt werden. Das erinnert sicherlich nicht zufällig daran, dass der Aufstieg Angela Merkels mit dem Bruch mit Helmut Kohl begann. Ihr Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Dezember 1999 war der Aufruf zur Trennung von dem Mann, der 25 Jahre die CDU geführt hatte und 16 Jahre Kanzler war. Mit der Begründung, durch seine Rolle in dem damaligen Parteispendenskandal habe er der Partei Schaden zugefügt. Es gelte, einen „rechtswidrigen Vorgang“ zu beenden und „Recht und Gesetz“ wieder Geltung zu verschaffen. Damals ging es um schwarze Geldkoffer und das Schicksal einer Partei. Heute geht es, so Seehofer und eine wachsende Zahl von Menschen in diesem Lande, um dessen Stabilität.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann bekundete Empörung: der Brief der CSU, erst recht eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht käme der „Ankündigung des Koalitionsbruchs“ gleich. Das ist ahistorisch. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994, das den Weg ebnete für weltweite Militäreinsätze der Bundeswehr, ging zurück auf Klagen der FDP- und SPD-Bundestagsfraktionen gegen die Beteiligung der Bundeswehr an AWACS-Überwachungsflügen über das ehemalige Jugoslawien zur Durchsetzung eines Flugverbots über Bosnien. Darüber hinaus klagte die SPD gegen die militärische Beteiligung zur Durchsetzung eines Embargos gegen Rest-Jugoslawien durch Schiffe der Bundesmarine sowie gegen den Somalia-Einsatz. Die vier Klagen wurden durch das Bundesverfassungsgericht zusammenhängend entschieden. Das heißt, drei der Klagen waren solche der SPD, die damals in der Opposition war, die vierte jedoch von der FDP, die bekanntlich während der gesamten Kohl-Zeit Koalitionspartner der Christdemokraten war und den Vizekanzler stellte. Nach der Oppermann-Logik hätte es entweder die damalige Regierung oder die Klage nicht geben dürfen.
Es handelt sich um einen Machtkampf innerhalb der herrschenden Kreise in Deutschland, bei dem es nicht nur um den weiteren Kurs des Landes, sondern auch um Europa geht. Allerdings ist es eine neoliberale Verkürzung, aus der Aussetzung von Schengen auf die dauernde Wiederaufrichtung nationaler Grenzzäune zu schließen. Und selbst wenn die Grenzkontrollen zur Folge haben, dass nicht mehr alle grenzüberschreitenden Zulieferungen für die Exportindustrie „just in time“ kommen, ist die EU noch lange nicht am Ende. Es ist aber bezeichnend, dass nicht nur die Industriellenverbände, sondern auch deutsche Minister und die EU-Kommission als erstes mit dem Scheitern der EU drohen, wenn es nur darum geht, dass ein paar betriebswirtschaftliche Kalkulationen nicht mehr stimmen.