von Wolfgang Brauer
Im September 1873 bestieg Mulai al-Hassan I. (1836-1894) den marokkanischen Thron. Im darauffolgenden Mai machte sich eine unter italienischer Führung stehende europäische Gesandtschaft („sechs Monarchien und zwei Republiken repräsentierte unsere große internationale Delegation aus Ministern, Konsuln, Sekretären und Kanzlisten“) auf den Weg von Tanger nach Fèz, um dem jungen Sultan die Aufwartung zu machen und ihm die Beglaubigungsschreiben zu überreichen. Das Ganze vollzog sich nicht ohne Verzicht auf das übliche nationalistische Brimborium. Der mitreisende „representante de la prensa“ vermerkte nicht ohne Stolz: „Zum ersten Mal wurde die Fahne des neuen Italien [das Königreich war 1863 gegründet worden – W.B.] in das Innere Marokkos gebracht.“ Wer hier die Vorboten künftiger Marokko-Krisen des kommenden 20. Jahrhunderts wittert, irrt nicht. Das Sultanat war seinerzeit sowohl als den Maghreb beherrschende Macht als auch hinsichtlich seiner Lage am Ausgang des Mittelmeeres für die europäischen Großmächte von evidenter Bedeutung. Hinzu kam seine Rolle als wesentliches Transitland für den Handel mit dem subsaharischen Afrika.
Die seinerzeitige „große Gesandtschaft“ der Italiener wäre heute allenfalls noch für die Diplomatie-Geschichte des Landes interessant – dessen koloniale Ambitionen richteten sich in den kommenden Jahrzehnten eher auf Libyen und Abessinien – wäre da nicht der „Presserepräsentant“ gewesen: Edmondo De Amicis (1846-1908), Teilnehmer (wenn auch recht glückloser) an den italienischen Einigungskriegen, Journalist, Reiseschriftsteller und dank seines herztriefenden Erziehungsromans „Cuore“ italienischen Lesern bis heute ein Begriff. Bei uns wäre er fast vergessen, wenn es seine Reiseberichte, die an Farbigkeit und Lebendigkeit kaum zu übertreffen sind, nicht gäbe. Neben einer geradezu perfekten Beherrschung des Schreiber-„Handwerkes“ war es sicherlich De Amicis Vermögen, sich ganz und gar auf seinen Gegenstand einzulassen: „Fès verschwindet, erscheint wieder, diesmal ganz nah. Zwischen uns und den Mauern das Volk, das Heer, der Hofstaat, ein Gepränge, ein Glänzen, ein Bild von so seltsamer Schönheit, dass mir damals die Zügel aus der Hand fielen und in diesem Moment der Füllfederhalter.“
Diese Schilderungen leuchten nur beim ersten Hinsehen als Illustrationen eines europäisches Kolonialdenken verbrämenden „Exotismus“ auf, wie wir es von anderen „Reiseerzählern“ gewohnt sind. Ethno-Kitsch kann er dennoch nicht ganz vermeiden: Jeder Träger des weißen Umhanges der Beduinen „ähnelt einem römischen Senator“; obwohl die Juden in seiner Beschreibung nicht allzu gut wegkommen, findet er es „bis heute nicht übertrieben, was man über die Schönheit der marokkanischen Jüdinnen sagt“ – und etliches dergleichen. Allerdings – das muss dazu gesagt werden – weiß er um die Ursachen der misslichen Lage der jüdischen Kaufleute in einem von einem mittelalterlichen Wertekanon geprägten muslimischen Staatswesen. Und er räumt ein, dass letzteren im Vergleich zu ihren christlichen Standesgenossen der potenzielle „Schutz“ der europäischen Kanonenboote nicht zuteilwerden würde: „Die Stange einer europäischen Fahne über einer Terrasse als drohender Zeigefinger einer verborgenen Hand genügt, um zu bewirken, was bei uns keine bewaffnete Legion erreichen würde.“
Edmondo De Amicis beherrscht die hohe Kunst, unter Verzicht auf jeglichen Voyeurismus gleichsam hinter die Perlenvorhänge des Orients blicken zu können – ohne diese beiseite zu schieben. Unvoreingenommenen Lesern macht sich damit eine erstaunliche Sicht vom Gestern in das Heute auf. Mitunter gemahnt sein Erzählton an die pädagogischen Absichten des Tacitus. Die Gesandtschaft erlebte noch in Tanger die Feierlichkeiten anlässlich des Geburtstages des Propheten. De Amicis beschreibt ein farbenprächtiges und auf den ersten Blick exzessives Schauspiel sondergleichen. Aber: „Die einzigen Freuden waren das Zuschauen und Hören. Keine Liebeshändel, kein einziger Betrunkener, keine Messerstecherei. Nicht zu vergleichen mit den Volksfesten in zivilisierten Ländern.“
Erkennen heißt Vergleichen, sagt eine alte Regel. Problematisch wird es erst, wenn der Vergleichende keinen Zweifel an seiner Ausgangsposition zulässt. Edmondo De Amicis lässt sich durchaus in seinen Positionen erschüttern. So schildert er anlässlich des Aufenthaltes im Stammesgebiet der Beni-Hassan – eines äußerst kriegerischen Völkchens im Sebou-Tal – einen Disput mit dem italienischen Konsularagenten Morteo, der seit 20 Jahren im Lande lebte: „Wir alle wünschten Marokko die Zivilisation, er dagegen behauptete, die Zivilisation würde dieses Volk doppelt so traurig und viermal unglücklicher machen, als es jetzt ist. Obwohl er Unrecht hat, war ich doch manchmal versucht ihm Recht zu geben.“
Für die Eskortierung der Diplomaten und ihres Trosses waren übrigens die jeweiligen Provinzgouverneure mit ihrem Militär zuständig. Man reiste also hinter der grünen Fahne des Propheten, stets umringt von islamischen Glaubenskriegern. Die hielten häufig, auf die Unkenntnisse der Europäer im Arabischen vertrauend, mit ihrer abfälligen Meinung über die „Christenhunde“ nicht hinterm Berg. De Amicis entwickelte ein feines Gespür dafür, dass die sich häufig überschwänglich äußernde Gastfreundschaft oft nur „eine kalte Zeremonie“ war. Er weiß auch um die Ursachen: „Kein Zweifel, dass diese Menschen, wenn sie uns vielleicht nicht hassen, uns doch zumindest nicht leiden können, und sie haben durchaus ihre Gründe, gute und schlechte.“ Dazu gehören auch die Erfahrungen der spanischen Reconquista, deren Erinnerungen zumindest in vielen maurischen Familien Marokkos noch allgegenwärtig waren.
Edmondo de Amicis blieb aber nicht in der Geschichte stecken. Er wusste, dass die Engländer „das schlecht bewaffnete marokkanische Heer“ gleichsam als „afrikanischen Festlandsdegen“ missbrauchten. Seine Beobachtungen erwiesen sich aber durchaus als Vorahnung auf die nur historisch Blinden unerklärlichen Konflikte des 21. Jahrhunderts: „Alle anderen hassen die Christen, nicht nur weil ihnen dieser Hass in den Schulen und Moscheen eingeimpft wird, sondern weil sie im Grunde ihrer Seele die vage Ahnung von der wachsenden, drohenden Macht der europäischen Staaten hegen, die sie früher oder später erdrücken wird. Sie hören Frankreich an ihren Ostgrenzen rumoren; sie sehen, wie die Spanier an ihrer Mittelmeergrenze Festungen errichten; sie sehen Tanger von einer christlichen Vorhut besetzt; […]. Kurzum, sie spüren die ständige Bedrohung einer Invasion und glauben, dass diese von allen Gräueln des Hasses und der Rache begleitet sein wird, weil sie überzeugt sind, dass die Christen die Muselmanen genauso hassen wie sie die Christen.“
Wer nun meint, De Amicis in die Ecke der frühen Beschwörer des „Krieges der Zivilisationen“ schieben zu können irrt heftig. Sehr bewusst gibt er der Wiedergabe eines Gespräches mit einem maurischen Händler breiten Raum. Der resümiert schließlich das lange Streitgespräch beider um den Vorrang der einen oder den anderen Lebensweise: „[…] ihr lebt nicht besser als wir, ihr seid nicht gesünder, frömmer oder zufriedener als wir. Also lasst uns in Frieden und hört auf, von allen zu verlangen, so zu leben wie ihr und auf eure Art glücklich zu sein. Wir alle leben in dem Kreis, den Allah uns bestimmt hat. […] Wir sollten seine Gebote achten.“
Das Gespräch könnte auch eine Erfindung Edmondo De Amicis sein. Diese Botschaft entspricht vollständig der humanistischen Grundaussage, die seine Reisebücher prägt. Dem Verlagshaus Römerweg ist nachdrücklich zu danken, dass es uns diese im inzwischen dritten Band einer Werkausgabe De Amicis‘ bei CORSO zugänglich gemacht hat. Wie seine Vorgängerbände zeichnet sich auch dieser durch eine Ausstattung auf hohem buchkünstlerischem Niveau aus.
Edmondo De Amicis: Marokko, CORSO, Wiesbaden 2015, 208 Seiten, 39,90 Euro.
Schlagwörter: Edmondo De Amicis, Glaubenskrieger, Italien, Kolonialismus, Marokko, Wolfgang Brauer