19. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2016

Glück und „anhaltendes Entsagen“ – Sigrid Damm über Goethe und Frau von Stein

von Ulrich Kaufmann

Durch Kurt R. Eissler, Jochen Klaus, Helmut Koopmann, Rüdiger Safranski und nicht zuletzt durch den dramatischen Monolog „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn Goethe“ von Peter Hacks glaubten wir zu recht, einiges über die Hofdame von Stein und den sieben Jahre jüngeren Dichter zu wissen. Sigrid Damm hat es dennoch gewagt, nach zweijähriger Arbeit ein reichlich 400 Seiten umfassendes Werk zu diesem vermeintlich „auserzählten“ Stoff vorzulegen. Gerüstet war sie durch ihre Texte über Goethes Dichterfreunde Lenz und Schiller, über seine Schwester Cornelia sowie die Ehefrau Christiane. Nicht zu vergessen die beiden in Ilmenau angesiedelten Erzähltexte „Geheimnisvoll offenbar“ und „Goethes letzte Reise“. Dort erzählt Damm in der Rückschau von Goethes gescheiterter, später Liebe zu der blutjungen Ulrike von Levetzow.
Unter dem Titel „Sommerregen der Liebe“ bietet die Autorin wiederum eine große, letztlich tragisch gescheiterte Liebesgeschichte an. Charlotte von Stein war über ein Jahrzehnt hinweg, vor allem seit Goethe 1782 seine Tagebucheintragungen vorerst einstellte, die engste Vertraute des Dichters, das „einzige Medium der Selbstreflexion“ oder, mit Goethes Worten, „die süse Unterhaltung“ seines „innersten Herzens.“ Mit ihr besprach er Arbeitsprobleme, auch die Differenzen mit dem Herzog. Sie las zuerst seine Texte, gab sie (auf Goethes Wunsch) an Freunde weiter, schrieb sie mitunter ab, da der Poet manchen intimen Vers in ihrer Handschrift „neu“ aufzunehmen gedachte.
Die Erzählerin hat diesmal eine völlig andere Form gewählt, die der Trilogie. Zwei Essays umrahmen 231 (von insgesamt 1.700) Goethe-Briefe an die Geliebte. Der Prolog, 1827, mit Charlottes Tod, einsetzend, ist ein Porträt der Stein. Erzählt wird ihre Herkunft, ihr harter Alltag, die Freuden und Sorgen mit den Kindern, die Trauer um verstorbene Nachkommen, eigene gesundheitliche Tiefs und nicht zuletzt erfährt der Leser von den Problemen ihres Ehemanns Josias von Stein, der zu Depressionen neigte, mehrfach als Oberstallmeister Arbeitsunfälle erlitt.
Abschließend wird in einem siebenteiligen Essay beider Beziehung ausgiebig betrachtet, zumal Damm die von ihr ausgewählten Briefe, welche sie zu den „schönsten Liebeszeugnissen der Weltliteratur“ zählt, im Mittelteil nur mit kargen Anmerkungen versehen hat. Da die Gegenbriefe der Stein nach dem Bruch mit Goethe 1788 – auf ihren Wunsch hin – vernichtet wurden, gibt es unendlich viele Lücken. Natürlich regen diese die Phantasie des Lesers und vor allem der Autorin an. Aber Sigrid Damm weiß sich, wie immer, zu zügeln, wagt keine haltlosen Hypothesen. Wenn die Quellen versiegen, findet sich auch hier mehrfach der seit Jahrzehnten bekannte, pietätvolle Damm-Satz. „Wir wissen es nicht.“ Die hier skizzierte Materiallage ist ein Grund dafür, dass Goethe, wie dies bereits der Untertitel anzeigt, in das Zentrum des Werkes rückt. In der Doppelbiographie „Christiane und Goethe“ war dies nicht der Fall.
Wer über Charlotte von Stein und Goethe schreibt, kann der Frage nach „Leib“ und „Geist“ nur schwer ausweichen. Goethe suchte das Glück der „Ganzheit“. Damm spricht mit Blick auf Goethe von „sich wiederholender Demütigung seines Körpers“. „Eissler hat in seiner Studie auch Spekulationen über Goethes Sexualität in der Zeit seines Verhältnisses zu Charlotte von Stein angestellt. Wen es interessiert, der kann es dort nachlesen. Ich gebe diese Hypothesen nicht wieder, sie respektieren nach meinem Gefühl Goethes Intimsphäre nicht, kommen ihr zu nahe… Wir müssen nicht wissen, welche Formen der Zärtlichkeit und Nähe, welche erotischen Beglückungen, welche Sublimierungen des Begehrens die beiden, Goethe und Frau von Stein, füreinander gefunden haben. Es ist und bleibt allein ihre Sache, für immer ihr Geheimnis. Allein den Spuren, die die Briefe legen, diesen Wortspuren gehen wir nach.“
Bei der Darstellung eines so gewaltigen, facettenreichen Stoffes kann es nicht ausbleiben, dass es hier und da Dopplungen, auch Überschneidungen mit ihren eigenen Büchern gibt, mit dem Lenz- oder dem Christiane-Buch etwa. In letzterem Fall räumt Damm nunmehr ein, dass ihre „Recherche“ von 1998 partiell von der Forschung „korrigiert“ wurde. Roberto Zapieri habe 1999 akribisch nachgewiesen, dass Goethes erster Beischlaf nicht mit Faustina stattfand (wie sie „fälschlicherweise noch schrieb“), sondern in den letzten Romtagen mit einer jungen Witwe.
In der angefügten Auswahlbibliographie fehlt der Name Ettore Ghibellino. Indirekt erwähnt sie ihn und notiert lapidar, in Klammern gesetzt: „Die seit Jahren mit großem Medienaufwand verbreitete Behauptung aber, nicht Charlotte, sondern Anna Amalia sei Goethes große Liebe gewesen, Frau von Stein habe sozusagen nur als Alibi herhalten müssen, ist völlig abwegig und durch nichts zu belegen.“
Das Buch lebt weniger von neuen Quellenfunden, obgleich die Autorin etwa auf den Rückseiten mancher Gedichte noch wenig Bekanntes findet oder hier und da spärliche Notate von Josias oder Fritz von Stein zitiert, den Goethe fast wie seinen Sohn behandelte. Vielmehr ist es erneut die Art der Darbietung, die den Leser anspricht, der mehrstimmige Montagestil, die subjektive Authentizität. Stilistisch variabel baut sie Spannung auf und lässt uns etwa das Jahr 1781 als das glücklichste dieser Liebe erleben. Nach 1784 gibt es weit weniger Goethe-Quellen, der Ton wird sachlicher, trotz aller Beteuerungen erlischt die Liebe.
Jeder Leser mag in diesem reichen Buch Passagen finden, die ihn besonders ansprechen. Köstlich zu lesen ist, wie Goethe Tag für Tag in seinem Garten nach Blumen für Charlotte sucht, wie der Gourmet Ausschau hält nach neuen Weinen und Braten für die häufigen gemeinsamen Mahlzeiten.
Andererseits sei darauf verwiesen, dass die Lenz-Kennerin Sigrid Damm noch nie so genau und ausführlich zeigte, wie tief und langanhaltend Goethe gekränkt war, als sein Jugendfreund aus Straßburger Tagen im Herbst 1776 etliche Wochen mit Charlotte von Stein auf dem Schloss Kochberg verbringen durfte. Erstaunlich, wie die Autorin Goethes karge Notate vom 10. September beleuchtet: „Früh war Lenz da wegen Kochberg. Reine Trauer des Lebens.“
Ob es sich bei diesem Buch um das Fazit ihrer Goethe-Bücher handelt, wissen wir nicht. Aber eine Zwischensumme von beachtlichem Format ist Sigrid Damm am Vorabend ihres 75. Geburtstages gelungen.

Sigrid Damm: Sommerregen der Liebe – Goethe und Frau von Stein, Insel-Verlag, Berlin 2015, 408 Seiten, 22,95 Euro.