von Gabriele Muthesius
Die Erzählung über das Kerbholz und das Ende des rechtsradikalen Zwickauer Untergrundterzetts Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe am 4. November 2011 seitens der damit befassten Staatsschutzbehörden* und seitens diverser Medien, also gewissermaßen die offizielle und die offiziöse Version, laufen – kurzgefasst – auf folgende Story hinaus:
Das Terzett gehörte Ende der 1990er Jahre zum braunen sogenannten Thüringer Heimatschutz und tauchte ab, als die Polizei am 26. Januar 1998 im Zuge einer Großrazzia gegen mehrere Wohnungen und Garagen des Terzetts auch eine von Zschäpe in Jena von einem Angehörigen der Polizei gemietete Garage durchsuchte und dort eine Bombenwerkstatt entdeckte. Böhnhardt, der bei der Durchsuchung anfangs anwesend war, konnte mit einem Fahrzeug den Ort des Geschehens verlassen.
Danach, im Untergrund, habe das Terzett unter anderem folgende Verbrechen begangen:
- Die Ermordung von neun Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund (acht türkisch-, einer griechischstämmig) in den Jahren 2000 bis 2006 in sechs Städten zwischen Rostock und München, mit immer derselben Tatwaffe, einer Česká 83. (Der in den Medien für diese Serie geprägte rassistische und verharmlosende Begriff „Döner-Morde“ avancierte 2012 zum Unwort des Jahres.)
- Das Nagelbomben-Attentat auf der Keupstraße in Köln-Mühlheim, einer belebten Einkaufsstraße mit insbesondere türkischen Geschäften, bei dem am 9. Juni 2004 22 Menschen verletzt wurden, einige davon schwer.
- Den Polizistenmord von Heilbronn, bei dem am 25. April 2007 durch Kopfschüsse die Polizistin Michèle Kiesewetter getötet und ein Kollege lebensgefährlich verletzt wurden; die Täter entwendeten die Dienstwaffen der Polizisten.
- Vierzehn Banküberfälle zwischen dem 18. Dezember 1998 und dem 4. November 2011, davon acht in Chemnitz, drei in Zwickau sowie je einer in Stralsund, Arnstadt und Eisenach.
Dazu weitere Attentate und andere Verbrechen. (Insgesamt kommen 26 Tatorte zusammen, die Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach dem 4. November 2011 von den Ermittlungsbehörden schrittweise zugeschrieben wurden.)
An jenem 4. November hätten sich Böhnhardt und Mundlos gegen 12.00 Uhr – nach einem angeblichen letzten Banküberfall – in ihrem zu diesem Zeitpunkt in Eisenach-Stregda geparkten Camper aufgehalten, mit dem sie üblicherweise unterwegs gewesen sein sollen. Sie hätten bemerkt, dass sich zwei Streifenpolizisten dem Fahrzeug näherten, und das Feuer eröffnet – aus einer Maschinenpistole, die aber sofort Ladehemmung gehabt hätte. Daraufhin habe Mundlos erst Böhnhardt und dann sich selbst erschossen und zwischendurch noch Feuer im Fahrzeug gelegt. Zschäpe habe am selben Tag gegen 15.00 Uhr die Zwickauer Wohnung des Terzetts in die Luft gesprengt und Beweismittel dabei abgefackelt.
Zschäpe stellte sich vier Tage später der Polizei in Jena. Kurz danach tauchte bei Behörden und Medien erstmals das Kürzel NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) auf, und es bürgerte sich rasch der Begriff NSU-Trio ein**.
Wenn das die offiziell-offiziöse Version ist, dann existiert auch noch eine inoffizielle? „Zumindest muss es noch eine wahre Version geben“, entgegnet Ekkehard Sieker im Gespräch mit der Autorin, „denn an der, die Sie gerade zusammengefasst haben, stimmt, außer dass es die 26 Tatorte gibt, Böhnhardt und Mundlos tot sind und Zschäpe sich gestellt hat, nichts.“
Sieker ist studierter Physiker und seit Jahrzehnten investigativer Journalist, war lange beim ARD-Magazin „Monitor“, als es noch einen besonders scharfen Biss hatte, und hat den sogenannten NSU-Komplex für das jüngste Buch des Sachthriller-Autors Wolfgang Schorlau, „Die schützende Hand. Denglers achter Fall“, minutiös recherchiert.
Sieker verweist darauf, dass viele wichtige, aber keineswegs alle seine Rechercheergebnisse in Schorlaus Buch eingeflossen und dort – ungewöhnlich für einen Krimi – mit Quellen dokumentiert sind.
Im Gespräch hebt Ekkehard Sieker insbesondere auf die nachfolgenden Sachverhalte, Indizien und Schlussfolgerungen ab.
Zu den Tatorten der vorgeblichen Verbrechen des Terzetts: „Meine Nachforschungen“, so Sieker, „haben ergeben, dass die Ermittlungsbehörden für keinen, keinen einzigen der 26 dem Trio zugeschriebenen Tatorte über eindeutige Beweise verfügen, dass auch nur jeweils eine der drei Personen dort anwesend war. Keine Fingerabdrücke, auch nicht andere, wirklich belastbare Spuren – weder von Böhnhardt und Mundlos noch von Zschäpe.“
Zur „Selbsttötung“ im Camper: Mundlos soll Böhnhardt und dann sich selbst erschossen haben. Beide starben laut Obduktionsbefund durch sogenannten Krönleinschuss (Nahschuss in den Schädel) mit einer Pumpgun. „Ebenfalls laut Obduktionsbefund hätten dadurch im Camper etwa zwei Kilogramm Hirnmasse verspritzt worden sein müssen. Tatortfotos von Mundlos, der sitzend an eine Wand gelehnt aufgefunden wurde, zeigen aber einen völlig sauberen Hintergrund. Darüber hinaus ist auch keinerlei Hirnmasse asserviert worden.“
Und: Die Kammer der Pumpgun neben Mundlos war leer und der Verschluss offen, was angesichts der Mechanik der Waffe bedeutet, dass er sie in dem Moment, als es ihm den Hinterkopf wegblies, mit physischem Krafteinsatz noch selbst entladen haben müsste.
Übrigens: Die Pumpgun war clean – keine Fingerabdrücke auf Lauf und Schaft, auch nicht auf den Patronen in der Kammer. Handschuhe trug Mundlos aber nicht.
Weiter: Mundlos soll vor seinem Selbstmord ja noch den Camper in Brand gesteckt haben. Das hätte bei der Obduktion eine erhöhte Kohlenmonoxid-Hämoglobin-Konzentration im Herzblut von Mundlos ergeben müssen. Dieser sogenannte CO-Hb-Indikator zeigt mit viel höherer Verlässlichkeit als etwa Verbrennungspartikel in den oberen Atemwegen an, ob ein Mensch unmittelbar vor seinem Tode Rauchgas inhaliert hat. Bei Mundlos betrug der Wert drei Prozent, absolut im Normbereich. Rauchgaseinatmung ausgeschlossen. Als der Brand ausbrach, war auch Mundlos mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits tot.
Und nicht zuletzt der Ablauf des vorgeblichen Selbstmordes: Die beiden Streifenpolizisten, die sich dem Camper genähert hatten, hörten, wie sie zu Protokoll gaben, zwei Knallgeräusche (aus denen in späteren Ermittlungsunterlagen „drei Schüsse“ wurden) – im Abstand von maximal 20 Sekunden. In diesem Zeitraum hätte Mundlos demnach Böhnhardt erschossen, dann den Brand gelegt und anschließend sich selbst getötet haben müssen. Eine solche „Choreographie“ halten Experten für praktisch undurchführbar. Die Zeit ist einfach zu knapp, zumal keine Brandbeschleuniger nachgewiesen wurden.
Eine weitere Unerklärlichkeit in diesem Kontext: Die Vorhänge vor den Fenstern des Campers waren geschlossen. Wie konnten Böhnhardt und Mundlos die Annäherung der Polizisten gegebenenfalls überhaupt bemerken?
Zu den Tatorten „Camper“ und „Zwickauer Wohnung“: In Eisenach bestellte der leitende Polizeidirektor am Tatort bereits kurz nach 13.00 Uhr, er weilte gerade mal eine gute halbe Stunde dort, einen privaten Abschleppdienst. Noch bevor systematische kriminaltechnische Untersuchungen auch nur begonnen hatten, ließ er das ausgebrannte, mit Löschwasser „getränkte“ Wohnmobil über eine etwa 40 Grad schräge Rampe auf eine Ladeflächen ziehen, wobei der Tatort umfassend zerstört wurde, da alle beweglichen Inhalte ihre Positionen veränderten. Der Camper wurde nicht etwa ins Polizeipräsidium verbracht, sondern in die Halle des Abschleppdienstes. Alle weiteren „Protokollierungen“ des Tatortes fanden dort statt. Und übrigens: Noch vor einer Untersuchung auf Schmauchspuren im Inneren wurde der Camper mit einem Hochdruckreiniger gesäubert.
Vergleichbares geschah mit dem Tatort „Zwickauer Wohnung“. Ebenfalls noch vor systematischen kriminaltechnischen Untersuchungen wurde er auf Veranlassung der Ermittlungsleitung mittels eines Baggers beräumt.
Zu den „aufgefundenen“ Waffen: Im Camper sind laut Protokoll insgesamt acht Waffen gefunden worden, darunter die beiden Heilbronner Dienstwaffen. Alle waren ebenso clean wie die Pumpgun. (Experten sprechen in einem derartigen Fall von einem hoch professionellen Tatort.) Und die Maschinenpistole, mit der auf die Polizisten gefeuert worden sein soll, fand sich auf der Sitzbank des Campers und zugleich in einer Plastiktüte zusammen mit einem Revolver unter dem Kühlschrank. Beide Varianten sind protokolliert. Nur eine kann stimmen. Die letztere wirft allerdings eine grundlegende Frage auf: Was könnte Böhnhardt und Mundlos veranlasst haben, die Waffe nach der Ladehemmung in dieser Form zu deponieren? Unmittelbar vor ihrer „Selbsttötung“ und ebenfalls noch innerhalb der oben skizzierten Zeitspanne von 20 Sekunden.
Die Česká wiederum wurde in Zwickau entdeckt, aber nicht in der Wohnung des Terzetts, sondern in dem aus dieser beräumten Brandschutt vor dem Haus – und zwar erst fünf Tage nach dem Baggereinsatz, zusammen mit acht weiteren Feuerwaffen. Muss noch erwähnt werden, dass auch diese Waffen keine verwertbaren Spuren aufwiesen?
Das seien, so Sieker abschließend, beileibe nicht alle Ungereimtheiten und Widersprüche in den Hergangsdarstellungen sowie im Ermittlungs- oder sollte man besser sagen Vertuschungsablauf und -stand in Sachen „NSU“.
Wenn aber nicht das Zwickauer Terzett, welche Täter oder Tätergruppen haben dann die in Rede stehenden Attentate, Morde und anderen Straftaten begangen? Wer hat Böhnhardt und Mundlos umgebracht? Und wer in welcher Behörde hat die parallelen Tatortzerstörungen in Thüringen und Sachsen angewiesen sowie für den 4. November 2011 und gegebenenfalls noch danach die „Beweismittel“ so arrangieren lassen, dass der Öffentlichkeit und den bisherigen Untersuchungsausschüssen im Bundestag und in immerhin sechs Länderparlamenten*** seitens der vortragenden und befragten Staatsschutzvertreter überhaupt eine Gesamttäterschaft des Terzetts plausibel gemacht werden konnte?
„Das sind offene Fragen“, räumt Ekkehard Sieker ein, „auf die auch Schorlau und ich zurzeit keine Antworten haben. Insofern ist Schorlaus Buch ein Zwischenergebnis mit dem Fazit: So, wie offiziell dargestellt, war es keinesfalls. Gewichtige Hinweise gibt es allerdings darauf, dass bei etlichen dem ‚NSU‘-Komplex zugeordneten Vorgängen der Verfassungsschutz seine Finger im Spiel gehabt oder gar die Fäden gezogen haben könnte. So waren beim Abtauchen von Zschäpe, Böhnhardt, und Mundlos und ihrem über zehnjährigen ‚Unentdecktbleiben‘ V-Leute des Verfassungsschutzes helfend aktiv. Und beim letzten der Česká-Morde am 6. April 2006 in einem Internetcafé in Kassel war nachweislich ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes zur Tatzeit vor Ort.“
Schorlau selbst erklärte im November in einer Lese- und Interviewveranstaltung im Deutschen Theater zu Berlin (Moderator: Gregor Gysi): „Das Buch ist ein Roman. Wo die Quellenlage Lücken hatte, habe ich diese mit Fiktion gefüllt.“
Unter dieser Maßgabe macht Schorlau – auf der Grundlage seiner ausgewiesenen Quellen – jedoch zumindest ein Erklärungsangebot, dessen Plausibilität jeder Leser des Buches selbst beurteilen mag. Die ganze „NSU“-Geschichte hinterlässt ja letztlich den Eindruck eines Tabula-rasa-Szenarios, mit dem eine ganze Reihe bis dato offener und innenpolitisch brisanter Terror- und Kriminalfälle als „aufgeklärt“ ad acta gelegt werden sollte. In Schorlaus Buch heißt es: „Vermutlich wurde ein Schlussstrich gezogen. Plötzlich wird eine der größten Mordserien in der Geschichte der Bundesrepublik zu Ende ermittelt, die Morde an den türkischen Geschäftsleuten werden aufgeklärt, der mysteriöse Mord an der Polizistin Kiesewetter, der Nagelbombenanschlag in Köln, ein weiterer Anschlag, einige Banküberfälle und vielleicht noch einiges anderes. Ein Sammelsurium, könnte man sagen. Es ist eine Schlussstrichgeschichte. Wir haben die Täter, ein Terror-Trio, die das allein zu verantworten haben. Zwei sind tot, der dritten Person wird der Prozess gemacht. Danach, nach dem Urteil in München, können wir alle wieder zur Tagesordnung übergehen, und niemand soll mehr fragen, was die Dienste damit eigentlich zu tun haben.“
Allerdings käme für die Konzipierung und Realisierung eines solchen Schlussstriches wohl nur eine zentrale und keinesfalls subalterne Staatsschutzebene mit entsprechender Weisungsbefugnis an nachgeordnete Behörden und Dienste in Betracht, die Durchgriff auf alle Ermittlungen zu Fällen des „NSU“-Komplexes hätte, Zugriff auf die Česká und solche „Beutestücke“ wie die Heilbronner Dienstwaffen einbegriffen, – oder?
„Ich weiß es nicht“, antwortet Sieker, „aber genauso stellt sich mir die Frage auch.“
* – Das sind folgende: Bundeskriminalamt, sechs Landeskriminalämter; das Bundesamt für Verfassungsschutz, sechs Landesämter; die Bundesanwaltschaft, Generalstaatsanwaltschaften von sechs Bundesländern und der Militärische Abschirmdienst.
** – Eine entscheidende Rolle gespielt hat dabei ein angebliches Bekennervideo, bekannt als Paulchen-Panther-Video, das auf mehreren Datenträgern gefunden wurde. Diese tauchten im ausgebrannten Camper und im Brandschutt der Zwickauer Wohnung des Terzetts auf. Die Datenträger waren unversehrt, also nicht durch Brandeinwirkungen geschädigt. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe kommen in dem Video allerdings selbst gar nicht vor.
*** – Thüringen, Sachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern.
Wolfgang Schorlau: „Die schützende Hand. Denglers achter Fall“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 382 Seiten, 14,99 Euro.
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