von Wulf Lapins, Prishtina
Müsste in Kenntnis des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, nach dem – verallgemeinert formuliert – sich Unordnung vergrößert, wenn man keine Energie aufwendet, um die Ordnung aufrecht zu halten, die gelernte Physikerin, Dr. Angela Merkel, für Russlands „ordnendes“ militärisches Eingreifen in den Syrien-Krieg nicht eigentlich Verständnis aufbringen? Doch wird Russland mit seinen Lufteinsätzen zum Teil der Lösung oder nimmt es Fahrt auf, zum Teil des Problems zu werden? Was als Belastung oder Ausweg definiert wird, hängt natürlich vom Blickwinkel und der jeweiligen Zielsetzung ab. Unstrittig ist jedoch, dass Russland nunmehr zum Teil der Verantwortung in Syrien geworden ist. Über die potenziellen Motive und Zielsetzungen der Moskauer Militäreinsätze ist bereits viel diskutiert und spekuliert worden. Drei Bezugspunkte stehen hierbei im Zentrum der medialen Erörterungen:
Erstens: Hilfe für Baschar al Assad: Ungeachtet des kontinuierlichen russischen Nachschubs an Waffen und Material per Schiff zu ihrem syrischen Marinestützpunkt in Tartus drohten aus Sicht des Kremls die Truppen Präsident Assads in den Kämpfen mit den Rebellen (die mittlerweile mit modernen US-Panzerabwehrraketen vom Typ BGM-71 Tow ausgestattet sind) sowie durch die Geländegewinne des IS in die militärische Defensive zu geraten. Das musste im strategischen Interesse verhindert werden, um im Nahen Osten eine Rolle mitgestaltend spielen zu können. Unter anhaltendem Druck verstärkte die Assad-Armee den Abwurf von Fassbomben in Gebieten der Aufständischen und sympathisierenden Zivilisten und forcierte damit zugleich den Fluchtstrom nach Europa.
Russland befürchtete, die USA könnten daraufhin ihre Überlegungen von Anfang August auch tatsächlich umsetzen: Im Rahmen ihrer Luftschläge gegen den IS ebenfalls Assads Truppen ins Visier zu nehmen. Westliche Pläne für die Errichtung einer Flugverbotszone waren bislang lediglich eine rhetorische Denkfigur gewesen. Nunmehr hörte Moskau in diesem Kontext jedoch eine neue, realistische Tonalität heraus. Dieses schmale Zeitfenster galt es zu schließen.
Die eilige Installierung einer effektiven Luftabwehr richtete sich vorrangig auch nicht gegen die Rebellen und IS. Beide verfügen nämlich gar nicht über luftgestützte Militärtechnik. Cui bono also? „Russland hat durch sein militärisches Vorgehen einen direkten Hebel auf die Flugbewegungen der internationalen Anti-IS-Koalition gewonnen und kann deren militärische Handlungsfreiheit wirksam begrenzen“, konstatierte die Stiftung Wissenschaft und Politik. Auch Israels Luftüberlegenheit über syrischem Territorium mit der sie immer wieder iranische Waffenlieferungen an die Hisbollah erfolgreich unterbinden, sprich vernichten konnte, muss jetzt durch die russische Luftabwehr wahrscheinlich mit einem Fragezeichen versehen werden.
Zweitens: Bekämpfung der Rebellen: Dem Drehbuch seiner Informationspolitik über das militärische Vorgehen auf der Krim und im Donbass folgend, dementierte Moskau zunächst Anfang September noch die Verlegung von Kampfhubschraubern und -flugzeugen nach Syrien (Luftbasis Latakia). Wenig später wollten immerhin syrische Diplomaten das nicht mehr bestreiten. Dann, bereits zwei Tage nach Präsident Putins Vorschlag auf der UN-Vollversammlung am 28. September für eine „breite weltweite Antiterrorkoalition“, erteilte der Föderationsrat ihm das Mandat für die Luftschläge.
Diese richteten sich gleichwohl zunächst vorrangig gegen Stellungen der Rebellen. Durch das Moskauer Prisma geschaut, ist Syrien durch die Schwäche des Assad-Regimes zu einem machtpolitischen Notstandsgebiet heruntergekommen, in dem nicht zwischen gemäßigten (Aufständische) und gefährlichen (IS) Insurgenten differenziert werden darf. Denn nach Moskauer Lesart ist jeder bewaffneter Akteur und geistiger Trittbrettfahrer gegen die Assad-Regierung ein Terrorist.
In der weiteren Deutung übernimmt die Armee als einzige verbliebene staatliche Institution die Funktion, gleichsam als Klammer gesehen, eine Reststaatlichkeit aufrecht zu halten. Ob die verbliebenen Streitkräfte aber Syrien in seinen jetzigen de jure Grenzen auch de facto die weitere territoriale Parzellierung des Landes unter den Zangengriffen der verschiedenen Gruppen werden stoppen oder gar revidieren können, muss in einem Licht bewertet werden, das schwere Schatten wirft. Die Konzentration auf die vorrangige Schwächung der Rebellen macht dennoch für die Politstrategen im Kreml Sinn. In der Konsequenz würde der Westen vor die Alternative IS oder Assad gestellt werden, sich in Abwägung beider wahrscheinlich für Assad als dem „kleineren Übel“ entscheiden müssen.
Und auch die künftige Präsidentenwahl wird ein Kompositionsstück harter russischer Real-und Interessenpolitik werden. In der Entscheidung über einen Zeithorizont eines „wie-lange-noch mit Assad“ wird sich Wladimir Putin mit Rücksicht auf die genaue Wahrnehmung in dieser Haltung in den autoritären Republiken von Aserbaidschan bis Usbekistan nicht auf einen billigen politischen Ablasshandel mit dem Westen einlassen wollen und können.
Drittens: Rückkehr auf die Weltbühne: Unter Präsident Obama konnten die USA im Nahen Osten keine nachhaltige Gestaltungsinitiative entwickeln. Und auch die konservativen Regionalmächte Türkei, Iran und Saudi Arabien haben keine aufweckenden Utopien. Sie modellieren nicht konstruktiv die nahöstliche Zukunft. Sie belauern sich vielmehr gegenseitig, um Einflüsse zu bewahren und zu vergrößern. Nachvollziehbar nutzt Russland deshalb westliche Uneinigkeit und Unentschlossenheit für die eigene nahöstliche Agenda und die heißt: In jedem künftigen Politikszenario für Syrien wird Russland ein mitgestaltender Akteur sein. Nach dem „Atomdeal“ mit dem Iran perzipiert Saudi Arabien mit großer Sorge nunmehr Teherans erwarteten Einflussgewinn im Nahen und Mittleren Osten sowie eine mögliche vertiefte Annäherung zwischen seinem regionalpolitischen Erzrivalen und den USA.
Um seinen verloren gegangenen politischen Spielraum zu vergrößern und der eigenen potenzialen Marginalisierung entgegen zu wirken, könnte Riad sich von nun an mehr Russland zuwenden. Die saudische Finanzierung des ägyptischen Kaufs von russischen Mehrzweckkampfflugzeugen MIG-35 ließe sich als ein Schritt in dieser Hinsicht deuten. Desweiteren: Mit dem russischen militärischen Eingreifen steht jetzt Syrien und nicht mehr das politisch stark aufgeladene Thema Ukraine im Fadenkreuz der westlichen medialen Aufmerksamkeit. Hoffnungen auf Lösungen für den Ukrainekonflikt wirkten bislang „aussichtslos“. Der Leiter des Carnegie Centers in Russland, Dimitri Trenin, justiert den Blick auf das diplomatische Schachbrett und urteilt: „Moskau hofft, dass eine Zusammenarbeit mit den USA zu Syrien die Konfrontation wegen der Ukraine dämpfen wird.“
Ob daraus tatsächlich ein gemeinsames Klettern im Hochgebirge der Diplomatie wird, scheint angesichts von bellizistisch gestimmten innenpolitischen Seilschaften in den USA zumindest fraglich. Die Koinzidenz zwischen dem weitgehenden und fragilen Einhalten der Waffenruhe in der Ostukraine seit dem 1. September und Putins UNO-Rede einen Monat später signalisiert nicht nur eine auf den Westen gerichtete, intendierte Fokusverlagerung weg von der Ukraine, sondern eben auch ein offensichtliches russisches Bemühen, Gesicht wahrend nach Auswegen im Ukraine-Konflikt zu suchen. Dass hierbei die eigenen Interessen verfolgt und nach eigenen Vorteilen gesucht wird, ist weder überraschend noch verwerflich. Der Kreml weiß aber auch, seine angestrebten politischen Ziele in und für die Ukraine würden mit der Wahl eines republikanischen US-Präsidenten im November 2016 oder mit der Wahl der liberalen Interventionistin Hillary Clinton schwerer in Einklang zu bringen sein, wenn nicht gar verunmöglicht. Obamas verbleibende Amtszeit wird es zu nutzen gelten.
Ein vierter Knotenpunkt im Kontext der Syrien-Intervention Russlands erhält zu wenig Bedeutung, obwohl er von globaler Bedeutung ist. Es geht um den Energieträger Gas. Im Syrienkrieg unterstützen Russland und Iran Assad. Die USA und Katar hingegen munitionieren oppositionelle Kräfte. Die vier Staaten besitzen die weltweit größten Gasreserven. Die USA werden durch Fracking zunehmend Gas-Selbstversorger. Damit verringert sich ihr Interesse am Nahen Osten als bisheriger Energieherzmuskel. Das könnte die Bedeutung von Saudi-Arabien für Washington abschwächen. Ob dies auch zu einem Rückgang der bisherigen saudischen Rüstungsgroßkäufe in Amerika führen wird, vielleicht gar zu einer Verlagerung zu Gunsten des russischen Waffenmarktes, ist derzeit noch nicht abzusehen.
Die russischen energiepolitischen Interessen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Die Bedeutung des Iran als potenziellen künftigen Mitanbieter und somit Konkurrenten für Gaslieferungen nach Europa zu schmälern; Syrien als Transitland für diesen Energieträger aus Katar nach Europa zu blockieren. Russland selber als Hauptanbieter für europäische Gasimporte dauerhaft zu etablieren.
Schlagwörter: Gaslieferungen, Iran, IS, Russland, Saudi Arabien, Syrien, USA, Wulf Lapins