von Margit van Ham
Leben, sich auf eine unbekannte Zukunft einlassen, Zukunft nicht berechnen wollen – oder einfach überleben, sich immer wieder in Kreisen um die Leere drehen? Hans-Christian Dany macht da eine scharfe Trennung. Er will weg aus einer Gegenwart, die keine wirkliche Veränderung bringt. „Alles steht still. Nur das nervöse Zucken immer engerer Produktionszyklen erweckt den Anschein von Bewegung, wie bei einer Fahrt auf dem Karussell, das auf der Stelle rotiert.“ Er fragt sich: „Was hat zu dieser in sich kreisenden Atmosphäre geführt? Warum scheint es so bedrohlich, sie zu verlassen? Warum ist die Zukunft auf einen Pessimismus zusammengeschrumpft?“ – Danys Buch „Schneller als die Sonne. Aus dem rasenden Stillstand in eine unbekannte Zukunft“ zieht den Leser in einen wahren Strudel von Fragen und Erkenntnissen zu Vergangenheit und Gegenwart, thematisiert Angst vor einer unbekannten Zukunft, die von den Regierenden zum Erhalt des Bestehenden genutzt wird. Es verquickt persönliches Leben mit dem gesellschaftlichen.
In diesem Strudel möchte man immer mal ein „Ja, aber…“ einwerfen, folgt jedoch dem atemlosen Text zur nächsten These und Frage. Kein leichtes Buch, aber unbedingt das Nachdenken befeuernd.
Ich gebe zu, dass mich mehr noch als die drängenden Fragen Danys die Bilder, die er zur Lagebeschreibung verwendet, faszinieren: „Seit das Kommende im Nebel des Bedrohlichen liegt, bewegen sich die Wünsche rückwärts auf der Zeitachse. Die Kaufenden wandern zu den guten alten Dingen aus sorgloser Zeit […] Die Echos der Vergangenheit machen nicht satt, sondern ein Völlegefühl. Sie erzeugen eine gedämpfte Atmosphäre, in der alles zuerst auf sich selbst bezogen wird. […] Betäubt von den Halluzinationen der statistischen Gefahr verlernen die Menschen, ohne Helm Fahrrad zu fahren. […] Die Sicheren und Satten wollen nirgendwo hin. Gelegentliche Restspannungen, die sich zappelnd entladen, werden mit Geschwindigkeit verwechselt.“
Laut Dany reicht die Bremsspur der Bewegung in die Zukunft über 40 Jahre zurück. Seitdem begann sich die industrielle Entwicklung zu verlangsamen und die Produktivität der westlichen Welt zu sinken. Die Verkündung der Grenzen des industriellen Wachstums (begrenzte Rohstoffe, Abfallberge/Umwelt, Überbevölkerung) nährte den Zweifel an der Zukunft – und den Aufstieg der Finanzderivate, mit denen in Erwartung auf das Kommende spekuliert werden konnte. Zugleich konstatiert Dany das Zusammenschrumpfen der avantgardistischen Kunst und des fiktiven Blicks in die Zukunft. Science-Fiction stellte sich nun die Zukunft meist als düsteres Durcheinander vor, wagte keine phantastischen Visionen mehr. Das Kommende unterschied sich kaum noch von der Gegenwart, Raumschiffe landeten nun in der Vergangenheit.
„Spielen ohne Gott“ nennt Dany einen Abschnitt, der von der Erfindung des Roulettes über das Zweifelhaft-Werden Gottes zur Kybernetik des 20. Jahrhunderts führt. Das sind spannende Zusammenhänge. „Roulette fasst die Bedrohung durch das unabsehbar Künftige in einer spielerischen Formalisierung zusammen.“ Mit der Kybernetik wird versucht, eine von Störungen bereinigte mathematische Kurve aus der Vergangenheit zu ermitteln. Ihre Vorhersagen treten an die Stelle einer ergebnisoffenen Zukunft. Die Kybernetik wird so als Technologie zur Verhinderung von Veränderung gesehen.
Heute sind wir bei den „big data“. Komplexe Datenströme werden zu statistischen Werten vereinfacht, die die jüngste Wirklichkeit samt der Wahrnehmung ihrer Akteure auf ein berechenbares Muster reduzieren und daraus dann Fiktionen der nahen Zukunft berechnen. Hinter den big data „atmet ein tiefer Pessimismus, dem alle positiven Erwartungen an die Zukunft verloren gegangen sind, weshalb sich die Maschinerie in ein gigantisches Gefäß ständig recycelter Gegenwart zurückgezogen hat, aus dem es abwehrt, was einfach passieren könnte“, schreibt Dany. Er beschreibt später den Homöostaten, eine Maschine, die den Zufall für den Selbsterhalt eines Systems nutzt. In der Unternehmensführung ist das homöostatische Modell erfolgreich beim Überwinden von Störungen und Krisen. Mit Hilfe des Homöostaten und der ständigen Ermittlung kurzfristiger Wahrscheinlichkeiten werden anstelle eines unbekannt Zukünftigen Varianten der Vergangenheit hergestellt. Fiktive Trends als Prognose. „Der Möglichkeitsraum des Neuen, in den ich mich blind hineinfallen lassen könnte, verschließt sich durch die Prognose.“
Dany stellt verschiedene Theorien vor, um aus diesem Szenario auszusteigen. Da gibt es ein Plädoyer für die Ahnungslosigkeit. „Wer eben noch glaubte, es zu wissen, und jetzt keine Ahnung mehr hat, beginnt, sich aus der Wolke seines blinden Blicks herauszubegeben. Gesehen wird immer noch wenig, handelt es sich doch um die Wirklichkeiten des Nicht-Menschlichen, die der Mensch gar nicht erkennen kann. […] Das beengende Kostüm einer endlosen Reflexion der Wahrnehmung lässt sich ein wenig öffnen […].” Die Kunst wäre ein Versuchsgelände für eine Bewegung „die beginnt, mit den Fragezeichen zu tanzen“.
Eine andere Möglichkeit, den Schlaufen der Wiederholung zu entgehen, sei, sich in die Psychose fallen zu lassen. Keine wirklich verlockende Aussicht. Immerhin merkt Dany hier an, dass sich niemand für eine Psychose entscheide, sie hole einen ab, wenn sich kein anderer Fluchtweg biete. Braucht der Mensch Visionen? „Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Ansprüche auf die Organisation des Überlebens reduzieren? Gibt es keine anderen Sehnsüchte, außer denen, dass die Dinge billiger und verfügbarer werden?
Er schlägt schließlich den Bogen bis zum Freiheitsbegriff des Westens. Dieser legitimiere den Krieg gegen alles, was von seinem Kanon abweicht. Es bedürfe keiner Religion, um die Notwendigkeit von Tabuzonen für den menschlichen Zugriff zu erkennen. Dany grenzt sich ab von den zahllosen Untergangsszenarien, die durch Erzeugung von Angst zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung beitragen. Posthumanismus ist bei ihm keine Welt ohne den Menschen gedacht, sondern eine veränderte Auffassung des Seins, die sich von der Anmaßung verabschiedet, alles zu erkennen zu glauben und bearbeiten zu können. Wer versuche Ungewissheiten abzuweisen, weiche vor Veränderung zurück. Es gehe darum, das Seiende auch als Undenkbares auszuhalten. Den Zufall als Fluchtlinie aus der menschlichen Kontrolle anerkennen. Das „Überleben“ verlassen, Unmögliches für möglich halten. „Der Wille zu leben, statt zu überleben , lässt sich nicht vernichten. Das Gelände der Zukunft ist nicht besetzt, nur der Durchgang dorthin ist verstopft.“
Hans-Christian Dany wagt große Fragestellungen, die Antworten bleiben eher im Vagen oder erschrecken sogar in den psychotischen Anklängen. Aber wie sollte es auch anders sein? Anregungen gibt das Buch reichlich und man kann sich dem Sog dieser Gedanken – und seiner schönen Sprache – schwer entziehen.
Eine kritische Anmerkung einer Nichtphilosophin: Die Realität kommt im Buch mehr in technischer Entwicklung und aus westlicher Sicht vor. Das Streben nach Sicherheit, nach „Überleben“ mag man in der reichen Welt als Abwehr der Zukunft kritisieren, wenn Hunger oder Krieg involviert sind, erhält es sicher eine ganz andere Bedeutung. 1989 – es hatte sich nichts Wesentliches verändert für Dany, der die alte BRD verliert – sehe ich eher als großen Einschnitt. Der geschichtliche Versuch, den Kapitalismus zu überwinden, ist gescheitert und bietet nun Möglichkeiten des Neu-Denkens. Und jetzt brechen die Flüchtlingsströme in unsere Kreise, bisher verdrängte Realitäten fallen auf unsere Füße. Die Anhäufung der Quantitäten, bevor ein Umschlag in eine neue Qualität erfolgt?
„Nichts wird sein, wie es war“, schließt Dany sein Buch ab. Da sind wir uns völlig einig.
Hans-Christian Dany: Schneller als die Sonne. Aus dem rasenden Stillstand in eine unbekannte Zukunft, Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg 2015, 126 Seiten, 12,90 Euro.
Schlagwörter: Hans-Christian Dany, Homöostaten, Margit van Ham, Posthumanismus, Untergangsszenarien, Zukunft