von Erhard Crome
Das Motto des Internationalen Willi-Münzenberg-Kongresses im September dieses Jahres in Berlin war: „Globale Räume für radikale Solidarität“. Diskutiert wurde auch die Solidaritätsbewegung mit den kolonial unterdrückten Völkern, die in den 1920er Jahren entstanden war. An deren Wiege stand maßgeblich ebenfalls Willi Münzenberg.
Die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) war zur Solidarität mit Sowjetrussland gegründet worden. Nachdem es dort wirtschaftlich wieder aufwärts ging, setzte sich die IAH 1923 für die hungernden Arbeiter in Deutschland ein, 1925 unter dem Leitwort „Hände weg von China“ für die streikenden und von ausländischen Truppen und Firmen unterdrückten Arbeiter von Shanghai, 1927 für die internationale Solidarität mit den unter Sandino kämpfenden Patrioten in Nikaragua. Dabei standen die Arbeit der IAH und der „Münzenberg-Konzern“ als ideologisch wirksames Konstrukt in engem Zusammenhang.
Zugleich waren stets verschiedene Solidaritäts- und Unterstützer-Komitees geschaffen worden, denen beileibe nicht nur Kommunisten, sondern namhafte bürgerliche Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, sozialdemokratische Politiker und Gewerkschafter angehörten. Babette Gross, seine Lebensgefährtin, hatte bereits im Zusammenhang mit der Gründung der „Arbeiterhilfe für die Hungernden in Russland“ geschrieben: „Zum ersten Mal – und das in sehr kurzer Frist – hatte der Organisator Münzenberg bewiesen, dass er imstande war, Fäden über die ganze Welt zu ziehen und Werbeaktionen großen Stils ins Leben zu rufen.“
Die Befreiung der kolonial unterdrückten Völker war eine zentrale Frage des Kampfes gegen den Imperialismus. Die Bolschewiki und die Kommunistische Internationale (Komintern) hatten auf diesem Feld nicht wirklich einen Durchbruch erreicht. Die Nationalrevolutionäre – um hier den von Gross verwendeten Terminus zu benutzen – aus der Türkei, Persien und anderen Ländern hatten sich einer Kominternlinie nicht unterordnen wollen. Der II., III. und IV. Komintern-Kongress diskutierten das Thema weiter, es kam aber nicht wirklich zu einer klaren Position. Die eine bestand darin, die Arbeiter und Bauern gleich zum revolutionären Kampf für den Sozialismus aufzurufen, die andere, dass zunächst die nationale Befreiung notwendig ist, und in diesem Kampf die nationale Bourgeoisie ein Verbündeter.
In dieser Lage nutzte Münzenberg seine Möglichkeiten, um praktische Solidarität zu entwickeln. Bereits im August 1925 hatte er in Berlin einen Kongress „Hände weg von China“ organisiert, um, wie er betonte, „das westliche Proletariat mit dem Proletariat des Ostens zu verbinden“. Im August 1926 warb er erstmals „für eine Kolonialkonferenz“. Dann sondierte er über seine Netzwerke, wer sich denn an einem solchen Projekt beteiligen werde. Nachdem er zustimmende Erklärungen aus China, Indien, Ägypten, Sudan, Südafrika und anderen afrikanischen Ländern hatte, wurde das Anliegen an Émile Vandervelde herangetragen. Der Sozialist und frühere Vorsitzende der II. Internationale war gerade belgischer Außenminister. Er stimmte zu unter der Voraussetzung, dass die Verhältnisse in Belgisch-Kongo nicht thematisiert werden. Danach verhandelte Münzenberg in Moskau über das Projekt. Dort war man skeptisch, warnte vor ideologischer Konfusion, sah aber Vorteile für die sowjetische Außenpolitik. Für Münzenberg aber waren der Kongress und die Kampagne, die daraus folgen sollte, mehr; in seiner sozialistischen Zukunftsgewissheit waren die „Verdammten dieser Erde“ die Menschen aller Hautfarben und Rassen.
Am Abend des 10. Februar 1927 begann die bis zum 15. Februar dauernde Konferenz im großen Saal des Palais Egmont in Brüssel mit einer leidenschaftlichen Rede des französischen Schriftstellers Henri Barbusse. Insgesamt nahmen 174 Delegierte teil, die 134 Organisationen aus 37 Ländern vertraten; 104 kamen aus Kolonien oder „vom Imperialismus unterdrückten“ Ländern, 70 aus Europa und den USA. Vertreter von Befreiungsbewegungen, Hinduprinzen und Generäle der Kuomintang trafen sich mit Gewerkschaftern aus Afrika, Asien und Lateinamerika sowie kommunistischen, sozialdemokratischen und liberalen Politikern und Künstlern aus Europa und den USA. Zu den Teilnehmern gehörten der Führer der mohammedanischen Freiheitsbewegung „Nordafrikanischer Stern“, Ahmed Ben Messali Hadj, Mohammed Hatta von der indonesischen Nationalbewegung „Sarikat Islam“, Jawaharlal Nehru, der spätere erste indische Ministerpräsident, für den Indischen Nationalkongress; Mahatma Gandhi bedauerte in einer schriftlichen Botschaft, nicht persönlich teilnehmen zu können. Albert Einstein sandte ein Grußtelegramm. Es wurde schließlich eine „Liga gegen Imperialismus“ gegründet, die Kontakte in alle Erdteile herstellte, Sektionen gründete und antikoloniale Propaganda machte.
Auf dem Münzenberg-Kongress wurde auch das Scheitern der Liga analysiert. Es wirkten mehrere Faktoren. Die Kuomintang brach mit der chinesischen Kommunistischen Partei und richtete bereits wenige Wochen später ein fürchterliches Blutbad unter den Kommunisten an. Die Teilnehmer aus den Kolonien wurden von den Kolonialmächten Frankreich, Großbritannien und Niederlande verfolgt und ins Gefängnis geworfen. Die Sozialistische Internationale erzwang den Rückzug aller wichtigeren Parteimitglieder aus den Komitees und Gremien der Liga mit dem Argument, das Ganze sei kommunistisch gesteuert, das sähe man schon an Münzenberg. Die Komintern und die Moskauer Führung wollte keine Bündnispolitik mehr auf Augenhöhe, sondern nur noch Sympathisanten. So war der zweite und letzte Kongress der Liga, der im Juli 1929 in Frankfurt am Main stattfand, nur noch ein Schatten des ersten. Die Spontanität und der Enthusiasmus von Brüssel waren entschwunden. Die russische Delegation drängte auf den Kampf gegen die Sozialdemokratie.
Dennoch haben verschiedene Teilnehmer des Kongresses in Brüssel aus den Kolonien, die 1927 oft noch junge, unbekannte Leute waren und später wichtige Funktionen in ihren befreiten Ländern einnahmen, später bekräftigt, dass der Kongress, die dort erfahrene Solidarität, die Tatsache, dass es eine Internationale des antikolonialen Kampfes war, die sie einschloss, sie in ihren Kämpfen beflügelte. Jawaharlal Nehru war nur einer von ihnen, wie die Referenten dieses Panels auf dem Münzenberg-Kongress detailliert darstellten. Dieser Internationalismus der Vertreter der kolonial unterdrückten Völker untereinander und derer aus Europa und den USA mit ihnen war etwas Neues. Das hatte es so zuvor nicht gegeben. Und das war ein Verdienst vor allem Münzenbergs und seiner Leute.
Am Ende dieser Debatte meinte allerdings jemand, das seien alles „weiße Männer aus Europa gewesen“, „ein paternalistisches Projekt“. Wer weiß, dass an deutschen Hochschulen, gegen Theateraufführungen und in eigentlich sich antirassistisch verstehenden Gruppen derzeit ein Gesinnungsstreit ausgetragen wird, unter dem Motto: „Dürfen Weiße Rassismuskritik betreiben?“, den wundert so etwas nicht. Das ist aber nur ein weiterer Beleg dafür, wie heutzutage scheinlinke Positionierungen benutzt werden, um künstliche Spaltungen zu schaffen. In wessen Dienste auch immer. Und es ist zutiefst ahistorisch. Die Zwerge von heute stehen auf den Schultern von Riesen, um einen alten Satz von Marx zu paraphrasieren.
Schlagwörter: antikolonialer Kampf, Brüssel, Erhard Crome, Komintern, Solidarität, Willi Münzenberg