von Alfons Markuske
„Nach allem, was wir wissen“, so schließt Bruno Preisendörfer, der Autor des hier zu besprechenden Buches, eine Bildungslücke – zumindest beim Rezensenten –, „trug Goethe keine Unterhosen.“ Doch noch bevor der Ruf des Dichterfürsten deswegen womöglich leiden könnte, setzt der Autor den Leser über die Gepflogenheiten der Epoche ins Bild: Die Funktion heutiger Unterhosen „erfüllten in Goethezeit, und zwar für Minister und Maurergesellen gleichermaßen, knielange Leinenhemden“. Für die galt allerdings: „je weißer, desto teurer“, so dass es gleichwohl möglich gewesen sein wird, Minister und Maurergesellen selbst am Leinenhemde voneinander zu unterscheiden.
Apropos Bildungslücke: Die meisten von uns Heutigen werden von der Goethezeit – sie umfasst in Preisendörfers voluminösem Reisebericht im Wesentlichen die Periode von 1770 und 1830 – kaum eine konkrete Vorstellung haben. Doch das ändert sich bereits zu Beginn des durchweg interessanten und minutiös anhand zeitgenössischer Quellen recherchierten Werkes, wenn der Autor mitteilt: „Die ‚Goethezeit‘ war Chaoszeit, gefährlich, unberechenbar, unheimlich. Sie hatte wenig von der Behaglichkeit, die dem greisen Geheimrat in seinem Haus am Frauenplan so wichtig war. Überall wankte die Ordnung, alles ging drunter und drüber in Weimar, in Deutschland, in Europa und auf der ganzen ‚Pomeranze‘, wie Lichtenberg die Weltkugel nannte. Kolonien wurden Staaten, Könige verloren den Kopf, Imperatoren zerrten im Zeitraffer das historische Lehrstück vom Aufstieg und Fall über die Bühne der Geschichte.“ Und: „Es wurden Kriege geführt mit einem unvorstellbaren Einsatz an Menschen, Material und ‚Menschenmaterial‘, um es im Sprachgebrauch der Militärs auszudrücken. Des Weiteren kam es zu wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Entwicklungen in einem Innovationstakt wie in keiner Epoche zuvor.“ Kommt einem doch irgendwie sehr vertraut vor, diese Lagebeschreibung – oder? „Willkommen in der Gegenwart“, ist man versucht auszurufen.
In zehn Abteilungen mit jeweils diversen Unterkapiteln schreitet Preisendörfer nahezu den gesamten Lebenskreis der Menschen zur damaligen Zeit ab – und zwar in Abteilungen, die in herkömmlichen Geschichtsbüchern, wenn überhaupt, allenfalls am Rande zur Sprache kommen. Wie sehr ins Detail er dabei geht, mag die Sektion Stadtleben exemplifizieren – sie wird unter anderem unter folgenden Aspekten abgehandelt: „Blick von außen“, „Am Tor und im Wirtshaus“, „Salonbesuche“, „Bei Hofe“, „Im Theater“, „Gang über den Markt“, „An der Universität“, „Werkstattbesichtigungen“, „Ortstermin im Armenhaus“, „Gang zum Richtplatz“ und „Blick ins Ghetto“. In vergleichbarer Weise werden das Landleben, der Alltag im Allgemeinen sowie Essen und Trinken im Besonderen, aber auch Kleider und Leute behandelt. Ehe und Familie, Sexualität sowie die Trinität von Gesundheit, Krankheit und Tod kommen ebenso zur Sprache.
Immer wieder gelingt Preisendörfer dabei der Spagat, ernsthaftes historisches Wissen mit verbürgten, höchst unterhaltsamen, teils amüsanten Petitessen und Kuriosa aufzulockern, ohne in oberflächlichen Boulevard abzugleiten. So skizziert der Autor im Unterkapitel „Leibeigenschaft und Fronarbeit“, wie in der Goethezeit in weiten Teilen Europas durch die Befreiung der Bauern aus ihrer bisherigen Knechtschaft eine wesentliche Voraussetzung für die rasante Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert entstand: „Die befreite besitzlose Landbevölkerung wurde zur Rekrutierungsarmee der sich beschleunigenden Industrialisierung […].“ (Diese Armee ist Lesern des Marxschen „Kapital“ seit dem Erscheinen von dessen erstem Band im Jahre 1867 unter dem Begriff des „doppelt freien Lohnarbeiters“ vertraut.)
An anderer Stelle erfährt man, dass die Wirtschaft schon zur frühen Goethezeit unter dem „Montagskater der Sonntagstrinker“ litt, was Friedrich II. 1783 zu einem Edikt veranlasste – „wegen Abstellung einiger Mißbräuche besonders des sogenannten Blauen Montages bey den Handwerkern“. Leider lässt Preisendörfer den Leser im Dunkeln darüber, ob F zwo mit seinem Vorstoß erfolgreicher war als 200 Jahre später ein sowjetische Mineralsekretär namens Gorbatschow.
Bisweilen gelingt es dem Autor gar, Epochales und Provinziales in einem Satze zu verquicken und damit die Spannbreite jeglicher Zeitläufte zu erfassen: „Und in dem Jahr, in dem man in Paris den König köpfte, untersagte man in Weimar das Auskippen der Nachttöpfe auf die Straße auch für die Zeit nach 23 Uhr.“
Das Buch gewinnt zusätzlich durch zahlreiche Abbildungen und insbesondere durch einen auch bei Sachbüchern heute häufig unter den Tisch fallenden Apparat, in dem der Autor nicht nur seine zitierten und weiterführenden Quellen aufführt, sondern dem er überdies einen Abschnitt „Die Goethezeit in Zahlen“ beigegeben hat, der über Länder und Leute, Eltern und Kinder, Maß- und Währungseinheiten, Einkommen sowie anderes mehr informiert. Dass das Werk selbst eines Personenregisters nicht ermangelt, bedarf da fast keiner gesonderten Erwähnung mehr. Mit einem Wort: Ein Weihnachtsgeschenk par excellence für Bildungsbürger und solche, die es werden möchten oder sollen.
In Bezug auf Goethe übrigens schloss Preisendörfer– zumindest beim Rezensenten – weit mehr als nur eine Bildungslücke. So auch diese: Christiane Vulpius, die Ihren Gatten als „Herr Geheimrat“ anzusprechen pflegte und ihn auch nach der Heirat 1806 außerhalb des Bettes grundsätzlich siezte, nannte dessen besten Teil – „Herr von Schönfuß“.
Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit, Verlag Galiani, Berlin 2015, 518 Seiten, 24,99 Euro.
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