von Klaus Hammer
Die Skulptur ist das Antlitz unserer Zeit. Sie hat unsere Ängste, unsere Furcht und Unruhe begleitet. Sie hat uns erschüttert, weil sie den fortschreitenden Zerfall der Materie zeigte und uns durch aufeinanderfolgende Invasionen von Phantasmen in Schrecken versetzte. Mit Bernhard Heiliger aber war die Zeit gekommen, sich wiederzufinden. Seine Arbeiten ponderieren die Richtungen und Gewichte aus, ordnen die Gegensätze ein, koordinieren die Achsen, kehren zur schlichten Sprache des Raums – der Sprache von Waagerechten und Senkrechten, Innen und Außen, Trennung und Bindung, offenen und geschlossenen Formen – zurück. Bis jedes Ding den ihm entsprechenden Sinn und Platz – seine Balance – findet. Es entsteht ein verkoppeltes System mehrerer Elemente, eine fließende und natürliche Bewegung der Materie. Freizügig, veränderlich und ungehindert breitet das Werk sich im Raum aus. Hier sind die tief verborgenen Kräfte konzentriert, die verschiedene Aspekte der menschlichen Existenz, Natur und Technik, Mensch und Kosmos verbinden. Die Dramatik ihres gegenseitigen Durchdringens, ihre innere Bewegung bestimmt nicht nur die Atmosphäre des bildhauerischen Schaffens, sondern wird auch dem Betrachter zum Erlebnis. Es entsteht ein Symbol, das menschliche Bestrebungen und Sehnsüchte in sich vereint, ein universelles und überzeitliches Symbol, das immer auch eine konkrete, bestimmte Situation zum Ausdruck bringt.
Der junge Bernhard Heiliger erhielt an der Kunstgewerbeschule seiner Heimatstadt Stettin seine erste Ausbildung in der Bildhauerklasse des Bauhaus-Schülers Kurt Schwerdtfeger. 1938 war er schon nach Berlin übergewechselt und hatte in Paris die Avantgarde kennengelernt. 1945 kehrte er nach Kriegsdienst und Lazarettaufenthalt nach Berlin zurück und war erst an der Hochschule für Angewandte Kunst in Berlin-Weißensee, dann (bis 1986) an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg tätig. Er nahm an der documenta I (1955), II (1960) und III (1964) teil, bis mit der documenta IV (1968) die amerikanische Kunst mehr ins Zentrum der Ausstellungen rückten. Er schuf viele Großplastiken für den öffentlichen Raum, so den „Figurenbaum“ für den Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel, 1962/63 die sieben Meter hohe Plastik „Flamme“ auf dem Ernst-Reuter-Platz in Berlin-Charlottenburg und die Hängeskulptur „Kosmos 70“ für das Foyer des Berliner Reichstages, die 1994 wegen des Kuppelbaus Fosters abgenommen wurde, nun aber in den Parlamentsbauten einen neuen, ihr angemessenen Platz finden soll.
Heiligers Weg führte von einer nicht-realistischen Figuration über abstrakte vegetative Formen bis hin zur frei konstruierten Eisenskulptur, die eine „Symbiose zwischen Natur und Technik“ vermitteln sollte. Schon die ruhenden oder sich bewegenden weiblichen Akte Heiligers (Liegende, 1949; Seraph I, 1950, beide Bronze), die den organischen Skulpturen Hans Arps ebenso verwandt sind wie den Reclining Figures von Henry Moore, heben sich bald von der Erde ab, sie wachsen pflanzenhaft empor oder schwingen sich wie ein Vogel in die Lüfte. Den Torsi oder organischen Formen hat der Energie- und Luftstrom Linien und Rillen, schrundige Verletzungen in die Körper eingeritzt. Die spiegelartig glänzende Epidermis jener Formen, die im Zwischenbereich von Organischem und Technoidem angesiedelt sind, wird auch dünnhäutiger, durch die Expansion im Raum scheint das Material sichtlich aufgebraucht zu sein.
Die zwischen 1950 und 1962 entstanden Köpfe bedeutender Persönlichkeiten enthalten eine besondere Suggestion physiognomischer und psychischer Inhalte, denn sie existieren immer an der fließenden Grenze von Erstarrung und sprechender Lebendigkeit, Tektonischem und Dynamischem, von Senken und Buchten, Drehung und Abbruch der Drehung. Ihr Material – Zement – lässt sie wie ausgewaschen und doch voller Profil erscheinen. Der Ausdruck konzentriert sich vor allem in den Augen, die durch gebohrte Pupillen in verschliffenen Wülsten angedeutet sind. Zu einer Ikone der frühen 1950er Jahre wurde der Kopf des Malers Karl Hofer in seiner aufwachsenden Kurve und kühnen Asymmetrie; anstelle der Pupillen stehen eingestochene Löcher, die groß umrundeten Augen geben dem Blick Tiefe und visionäre Kraft. Im gotisch gelängten Musikerkopf von Boris Blacher verbindet sich geometrische Strenge mit intellektueller Schärfe, während der einer aufgesetzten Maske ähnliche Kopf des Mimen Ernst Schröder Milde und Gelassenheit atmet und die Knopfaugen in die Welt hinaus spazieren schickt. Mit hochgezogenen Augenbrauen und abgesenkten Tränensäcken visualisiert der Kopf Ernst Reuters, des Oberbürgermeisters Westberlins, eine besondere Wachheit und Aufnahmebereitschaft. Eine gelassene Würde strahlt das Antlitz des Bundespräsidenten Theodor Heuss’ aus, es scheint ganz in sich zurückgezogen zu sein und kann doch blitzschnell in Weltauseinandersetzung umschlagen. Mit seinen Bildnissen hat Heiliger einen originären Beitrag zum Menschenbild im 20. Jahrhundert geleistet.
Seit den späten 60er Jahren fand Heiliger im Kontrast von dunkel patinierten und polierten Flächen ein Mittel der Verlebendigung des Materials, das auch gleichzeitig seine Überwindung andeutete. Er experimentierte mit Materialien wie Plexiglas, Holz, Aluminium und Edelstahl. Die vegetativen Formen wurden von technoiden Artefakten abgelöst.
In den 1980er Jahren wird dann die „Bronzezeit“ durch die „Eisen- und Stahlzeit“ abgelöst, in der offene, dynamische, gerüsthafte Konstruktionen entstehen. Bei den Bronzen hatte Heiliger dem Wachstum schrundiger Oberfläche auch polierte, scharflinige Flächen gegenübergesetzt. Bei den Eisenplastiken werden der Kreis, die Scheibe, die Kugel und andere gekantete, geometrische Formen mittels Stangen und Rohren in den Raum überführt. Die Flächen verlaufen in oft gegensätzlicher Weise in Geraden und Bögen, die Rohre und Stangen beschreiben ausgreifende Raumlinien. Eine Kugel scheint plötzlich auf der Fläche oder schienenartig gebogenen Stäben zu laufen. Zwischen Körper und Raum, Fläche und Volumen, Stabilität und Labilität, zentrifugalen und zentripedalen Kräften entsteht eine vibrierende Spannung, die sich in den Raum und auf den Betrachter überträgt.
„Plastik ist gebannte und räumliche Realität“, bekannte Heiliger, „nicht Stillstand, sondern Bewegung – wach zu sein zwischen den Dingen, die noch im Werden begriffen sind“.
Bernhard Heiliger wäre am 11. November 100 Jahre alt geworden.
Schlagwörter: Bernhard Heiliger, Klaus Hammer, Plastik, Raum, Skulptur