18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Ausrinnen der Arbeiterklasse – Von der Deindustrialisierung zur Deklassierung

von Franz Schandl, Wien

Unter Deindustrialisierung verstehen wir einen Schrumpfungs-, Zerschlagungs- und Liquidierungsprozess des industriellen Potenzials (Arbeitskräfte, Maschinen, Gebäude, Know-how). Zentral ist der Verlust von Industriearbeitsplätzen, die von der Industrie selbst nicht kompensiert werden können. Kennzeichnend ist, dass immer weniger Arbeit und somit auch Arbeiter zur Herstellung bestimmter Produkte notwendig sind, aber auch, dass (nicht nur aufgrund der niedrigen Qualifikation) die verbleibende notwendige Arbeitskraft anderswo billiger eingekauft werden kann.
Deindustrialisierung heißt aber nicht, dass die Form der Produktion von Massenwaren sich grundsätzlich ändert, es wird ja weiterhin industriell gefertigt. Deindustrialisierung funktioniert vorerst als räumlich fixierter und auch zeitlich forcierter Abzug des industriellen Potenzials. Wo und wann und auch wie das vonstattengeht, darüber entscheidet primär die globale Konkurrenz. Man braucht inzwischen auch immer weniger Fabriken, um das proportional nötige Weltquantum herzustellen. Und um es auf die konkrete Ebene der Standorte herunterzubrechen: Strümpfe werden weiterhin in Strumpffabriken hergestellt, aber eben nicht mehr in dieser oder jener Weltregion.

Wertrevolutionen

Viele Betriebe rechnen sich nicht mehr, sie waren zu wenig spezialisiert, dafür verfügten sie über Überkapazitäten (Maschinen wie Arbeiter), die einfach nicht mehr gebraucht wurden. Diese Betriebe sind in ihrer Struktur nicht aufrechtzuerhalten. Der Markt negiert ihre Existenz binnen weniger Jahre. Was gestern noch von Erfolg zu Erfolg eilte, war auf einmal überflüssig und schrottreif geworden: „Erleidet der gesellschaftliche Kapitalwert eine Wertrevolution, so kann es vorkommen, dass sein individuelles Kapital ihr erliegt und untergeht, weil es die Bedingung dieser Wertbewegung nicht erfüllen kann. Je akuter und häufiger die Wertrevolutionen werden, desto mehr macht sich die automatische, mit der Gewalt eines elementaren Naturprozesses wirkende Bewegung des verselbständigten Werts geltend gegenüber der Voraussicht und Berechnung des einzelnen Kapitalisten, desto mehr wird der Lauf der normalen Produktion untertan der anormalen Spekulation, desto größer wird die Gefahr für die Existenz der Einzelkapitale. Diese periodischen Wertrevolutionen bestätigen also, was sie angeblich widerlegen sollen: die Verselbständigung, die der Wert als Kapital erfährt und durch seine Bewegung forterhält und verschärft.“ (MEW 24, 109)
Die Deindustrialisierung ist freilich kein Randphänomen, sondern betrifft alle industrialisierten Zonen und Standorte. Das Problem ist ein transnationales. Der Standard berichtet 2013:„Frankreichs Regierung will die Industrie durch die Förderung von 34 Prestigeprojekten von Grund auf neu erfinden.“ Präsident Hollande hat sogar die dritte industrielle Revolution ausgerufen. In zehn Jahren sollen 475.000 Arbeitsplätze geschaffen werden. In Frankreich ist die Zahl der Industriearbeiter von 5,5 Millionen (1973) auf 3,2 Millionen (2010) gesunken.
Ähnliches verlautbarte die Europäische Kommission, die erst unlängst den Beschluss gefasst hat, mit offensiven industriepolitischen Maßnahmen eine Reindustrialisierung zu forcieren. Wirklich neu ist aber in diesem Zusammenhang eine konkrete Zielvorgabe von 20 Prozent der Wertschöpfung.
Ganz banal gefragt: Was sollen die allesamt produzieren und wozu? Wer soll es kaufen und kaufen können? Was sollen die Konsumenten davon haben? Was heißt das ökologisch? Selbst Ökonomen, die die Zielsetzungen der Kommission grundsätzlich teilen, halten solche Prognosen für unrealistisch. Michael Peneder vom WIFO etwa schreibt: „Wenn die Maßnahmen einer offensiven Neuen Industriepolitik erfolgreich sind, wird die Produktivität der Sachgütererzeugung relativ zu den anderen Sektoren noch rascher steigen. Weil auch die USA, Japan und zahlreiche Schwellenländer ähnliche Instrumente einsetzen, ist der mögliche Zugewinn an Wertschöpfung der Industrie durch Verbesserung des Außenbeitrags begrenzt. In Summe wird durch den globalen Wettlauf um eine möglichst große Wettbewerbsfähigkeit der Industrie jedenfalls das Produktivitätswachstum in der Sachgütererzeugung weiter angetrieben. Wir alle profitieren dabei von günstigeren Waren und damit höheren realen Einkommen. Der Anteil der Industrie an der nominellen Wertschöpfung wird dadurch aber noch rascher sinken!“
Arbeit und Arbeitsplatz müssen aufgestellt werden, da sind sich alle einig. Eine Politik, die keine Arbeitsplätze verspricht, darf es nicht geben, weder im Waldviertel noch in Paris oder Brüssel. „Das Postulat der Vollbeschäftigung wird also umso weniger erfüllbar sein, je höher der technologische Status einer Gesellschaft ist“, schrieb Günther Anders; und weiter: „Die Dialektik von heute besteht in diesem Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbeschäftigung. Dies offen zuzugeben, bringt kein Politiker über sein Parteiherz.“
Die Schaffung von Lohnarbeit gilt als zentraler Leistungsausweis. Aufgabe der Politik, der Interessenvertretungen und der Wissenschaft und ihres jeweiligen Personals ist es, das Versprechen der Arbeit als Versprechen auf Arbeit unablässig zu erneuern. Doch diese Versuche werden immer unglaubwürdiger, Versprechen und Entsprechen fallen zusehends auseinander.
Eine aggressive Standortpolitik mag lokale Ausnahmen schaffen, die generelle These aber lautet, dass die Bedeutung der Industriearbeiterschaft global und national, regional und kommunal abnimmt und dass diese Tendenz nicht umkehrbar ist. Dies ist auch der Fall, wenn Betriebe wachsen und das Volumen der hergestellten Waren zunimmt. Charakteristikum dieser strukturellen Krise ist, dass diese Prozesse (anders als in Zeiten der Industrialisierung) nicht mehr zusammen-, sondern zusehends auseinanderlaufen. Selbst ein exorbitantes Wachstum könnte diese Entwicklung global nicht mehr drehen. Und auch wenn man den servoindustriellen Bereich zum industriellen erklärt, schönt das nicht mehr als die Statistik. Eins heißt Deindustrialisierung aber keineswegs, nämlich, dass weniger Waren global hergestellt werden. Lokal wird es sehr wohl der Fall sein, vor allem in den Zonen der Standortverlierer.
Industrialisierung ist eine Kategorie, bei der das „Mehr“, der gesellschaftliche Komparativ, völlig ungebrochen und breit aufgefächert erscheint. Wachstum ist gegeben, der Produktenausstoß steigt, ebenso die Profite und Löhne. Auch die Arbeiter werden mehr. Für die Deindustrialisierung ist vor allem typisch, dass die Lohnarbeitsstunden und die Zahl der Lohnarbeiter sinken, unabhängig davon, ob die Profite und das Wachstum gesteigert werden können. Ob Gewinn oder Verlust, ob mehr oder weniger Produkte, Arbeit und Arbeiter werden nicht angezogen, sondern abgezogen. Die Phase der Attraktion des Kapitals wurde von einer Phase der Repulsion abgelöst. Während Industrialisierung also einen synchronisierten Prozess beschreibt, wo alles ineinandergreift und in eine Richtung sich bewegt, ist die Deindustrialisierung wohl als asynchrone Entkoppelung zu charakterisieren.

Maschine gegen Arbeit

„Die unerlässliche Bedingung für eine passable Lage des Arbeiters ist also möglichst rasches Wachstum des produktiven Kapitals“, schreiben Marx und Engels. Diese Bedingung ist nicht mehr gegeben, weder global noch lokal. Sprach Friedrich Engels in seiner klassischen Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ noch von einem „Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit“, so müssen wir heute vom Sieg der Maschinen über die Arbeit sprechen. Immer mehr Tätigkeit geht von den Arbeitern direkt auf die Maschinen über. Das Fabrikat braucht immer weniger menschliche Arbeitskraft und Arbeitszeit zu seiner Herstellung. Die Maschine frisst die Arbeiter und zwar in atemberaubendem Tempo.
Die Produktionsstätten werden zwar nicht leer, aber sie werden sukzessive entleert. Die Unterschiede zwischen einer Fabrik in den Siebzigerjahren des vorangehenden Jahrhunderts und heute sind auch ganz augenscheinlich. Während der Raum und in ihm die Zahl der Maschinen und ihre Komplexität wächst, sinkt das Personal, das zur ihrer Bedienung nötig ist. Zunehmende Maschinendichte und abnehmende Menschendichte gehören zusammen.
Die ständige Entwertung der Arbeitsprodukte durch das jeweilige Einzelkapital konnte bis zum Ende des Fordismus in den Siebzigerjahren durch Ausweitung der Gesamtproduktion relativiert werden. Heute scheint das nicht mehr möglich zu sein, da die Produktion an ihre äußeren (ökologischen) und inneren (ökonomischen) Schranken stößt. Immer mehr Waren können in immer weniger Arbeitseinheiten und somit auch mit weniger Arbeitskräften hergestellt werden. Diese Tendenz ist nicht aufhaltbar und umkehrbar. Die Konkurrenz der Standorte und Betriebe und Verkäufer treibt sie unermüdlich an.
Denn natürlich stellt sich auch die Frage, ob das Kapital neue Anlage- und somit Akkumulationsmöglichkeiten finden kann, diese also unbegrenzt zur Verfügung stehen, um etwa einen neuerlichen Boom auszulösen, der mehr ist als ein spätes Strohfeuer. Die tendenziell abnehmende Investitionsquote verdeutlicht, dass die Industrie sich selbst oft nicht mehr traut und überschüssiges Geld eher am Finanzmarkt anlegt, also zielstrebig mehr auf das fiktive Kapital setzt als auf das fixe.

Ausrinnen der Klasse

Bisher kann gesagt werden, dass die dritte industrielle Revolution mehr Arbeiter exkludiert als inkludiert. Das ist zweifellos neu. Dahingehend wäre ein hoher Anteil an industrieller Wertschöpfung eher als ein Zeichen der Rückständigkeit zu deuten. Die Arbeiterklasse muss auf eben diese ihre objektive Schranken projiziert werden: „Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d. h. in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde. Hierin erscheint wieder die spezifische Schranke der kapitalistischen Produktion, und dass sie keineswegs eine absolute Form für die Entwicklung der Produktivkräfte und Erzeugung des Reichtums ist, vielmehr mit dieser auf einem gewissen Punkt in Kollision tritt. […] Die absolute Überschusszeit, die die Gesellschaft gewinnt, geht sie nichts an. Die Entwicklung der Produktivkraft ist ihr nur wichtig, sofern sie die Mehrarbeitszeit der Arbeiterklasse vermehrt, nicht die Arbeitszeit für die materielle Produktion überhaupt vermindert; sie bewegt sich also im Gegensatze.“ (Marx)
Reindustrialisierung ist nicht die Antwort auf Deindustrialisierung. Eine Reindustrialisierung der Welt ist eine Mischung aus falschem Wunsch, gefährlicher Drohung und hilflosem Gerede. An sich wäre die Deindustrialisierung überhaupt nicht das Problem, sondern vielmehr deren Folgen für die von ihr Abhängigen (=Lohnabhängigen) unter dem Zeichen der kapitalistischen Verwertungspflicht. Das ist freilich für traditionelle Interessenvertretungen schwer zu rezipieren und noch schwerer zu akzeptieren, stellt es doch deren gesamtes Selbstverständnis in Frage. Beharren diese jedoch auf den eingefahrenen Mustern, werden sie von einer sozialen Reformkraft zu einem konservativen Faktor des Standorts, dem dann alles zu unterwerfen ist, soll er am Markt erfolgreich sein. Tatsächlich erscheinen sie heute so. Alle Debatten, die wir kennen, sind letztlich affirmativer Natur.
André Gorz war einer der Ersten, der dies in seiner ganzen Tragweite begriffen hat: „Die Logik des Kapitals hat uns an die Schwelle der Befreiung geführt. Aber man kann sie nur mittels einer Zäsur überschreiten, die die produktivistische Rationalität durch eine andere Rationalität ersetzt.“ Denn andersrum gilt auch: „Der ,Fortschritt‘ hat eine Schwelle erreicht, hinter der er seinen Sinn verändert: Die Zukunft hält nur Drohungen parat, nicht Hoffnungen.“ Die Frage, die sich aufdrängt, ist nicht, wie die Industrie zu retten oder gar neu zu erfinden ist, sondern: Was kommt nach der Industrie? – und besser noch: Was wollen wir eigentlich? Nicht nur hilflos und leer, auch gefährlich ist die Forderung nach einer Reindustrialisierung, bedenkt man insbesondere deren ökologische und humane Folgen.
Vorerst geht die Deklassifizierung einher mit der „Schwächung der Mobilitätsinstanzen“ (Bourdieu). Betriebsrat, Gewerkschaft, Partei (Sozialdemokratie) verlieren allesamt an Einfluss, da es ihnen nicht gelingt oder auch gar nicht gelingen kann, den Mangel an objektiver Klassifizierung durch subjektive Identifizierung zu überbrücken. Die traditionelle Arbeiterbewegung rinnt aus, nicht vorrangig aus politischem Unvermögen, sondern in erster Linie aufgrund der Entwicklungen oder besser: Abwicklungen und Fragmentierungen auf dem Industriesektor. Das zu vertretende Kollektiv verschwindet, löst sich auf in disparate Segmente oder gar personelle Atome, deren Interessen immer schwieriger auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das alte Instrumentarium taugt nicht, doch ein neues steht nicht zur Verfügung.
Klasse und Klassenkampf erscheinen nicht mehr als zentrale Bestimmungskriterien der sozialen Auseinandersetzungen. Das Bewusstsein, also die Erfahrung und die Erkenntnis, etwas Gemeinsames darzustellen und eben als Klasse zu verkörpern, geht weitgehend verloren. Die Zusammenhänge erscheinen nicht mehr konturiert, sie sind vielmehr amorph. Die Einzelnen verstehen sich nicht mehr als Glieder einer Gruppe oder gar Kampfgemeinschaft. Der Mangel an Identität lässt an keine Autoritäten mehr glauben, vor allem auch deswegen, weil sie kaum noch Protektion (was jetzt nicht nur negativ gemeint ist) bieten können. Die Klasse bietet keine Geborgenheit mehr, weil sie an allen Ecken und Enden porös geworden ist.
Der Kampf um den Arbeitsplatz, das heißt um den Verkauf der Ware Arbeitskraft, ist durchaus als ein Klassifizierungskampf zu dechiffrieren. Umgekehrt freilich ist die Erfolglosigkeit oder gar Aussichtslosigkeit eines solchen Vorhabens Kennzeichen der Deklassifizierung. Deklassifizierung ist ein Exklusionsprozess, während Klassifizierung einen Inklusionsprozess beschreibt. Die Klasse gibt ihren Mitgliedern eine Identität, die sie innehaben, egal ob sie wollen oder nicht. Sie werden darauf fixiert. Deklassifizierung meint, dass diese Identität immer prekärer wird und sich aufzulösen beginnt, ohne dass anderes an ihre Stelle tritt.

Deklassifizierung als Entformierung

Deklassifizierung meint, dass die Ware Arbeitskraft von ihrem Besitzer nicht (mehr) verkauft werden kann oder besser, dass kollektivvertraglich vereinbarte Lohnarbeitsverhältnisse immer seltener werden. Auf jeden Fall geht dabei der traditionelle Klassenzusammenhalt in die Brüche, auch weil der gemeinsame soziale Raum (die Fabrik oder das Büro) nicht mehr vorhanden ist oder nicht mehr diese Kontinuität in den Erwerbsbiographien der Menschen aufweist.
Das Interesse kann heute kaum mehr kollektiv wahrgenommen werden, da die Einzelnen wirklich vereinzelt sind und sich dementsprechend spüren, das heißt, sie sind zunehmend auf sich allein gestellt, real wie mental. Ihresgleichen mag es viele geben, aber diese sind nicht räumlich in Fabrik oder Büro konzentriert, sondern ganz flexibel werden sie mal da und mal dort eingesetzt. Oder sie sitzen gar zu Hause vor dem Computer. Formierung geschweige denn Institutionalisierung von Solidarität fällt schwer, weil diese aufwendig koordiniert werden müssten.
Die Klasse ist nicht mehr in Form. Kein Training und kein Trick wird die alte Form zurückbringen. Und diese Aussage gilt in beiden Bedeutungen. Mit der Form verliert die Klasse auch zusehends konkretisierbare Inhalte und kollektive Interessen. Mit dem Verfall der Organisationseinheit ,Betrieb‘ schwindet der Einfluss von Betriebsräten und Gewerkschaften sukzessive.

Deklassierung als Nichtung

Deklassifizierung sagt aber nur, dass man aus seiner Klasse gefallen ist, sie sagt nicht aus, wohin die Reise zu gehen hat. Schließlich kann die Deklassifizierung durch eine neuerliche Klassifizierung rückgängig gemacht werden, sowohl ein Wiedereinstieg als auch ein Umstieg können glücken. Deklassifizierung bedeutet noch nicht soziale Degradierung durch Deklassierung. Letztere folgt nicht automatisch.
Deklassierung geht dann also noch einen Schritt weiter, sie ist der Vollzug einer Kapitulation. Man fällt nicht nur aus der Klasse, man fällt zusehends aus der Gesellschaft, vor allem aus einem nicht nur gerade noch tolerierten, sondern akzeptierten Leben. Deklassifizierung meint eine soziale Infragestellung der Exponate, Deklassierung meint eine soziale Verneinung derselben als gesellschaftliche Glieder. Ist heute Deklassifizierung ein Massenphänomen geworden, so ist die Deklassierung noch immer ein Randphänomen, auch wenn der Rand breiter wird.
In der Deklassierung verliert man nicht nur seinen sozialen Status, es droht auch die soziale Nichtung. Man ist nun nichts mehr, die Rollen sind ausgespielt. Deklassierung bedeutet absolute Degradierung des menschlichen Wesens. Es verliert das Weltvertrauen. Das abgeschriebene Subjekt, dessen Leben bedroht ist, weil es nicht einmal für seine Existenz sorgen kann, ist auch noch verschiedenen Zumutungen ausgesetzt. Problematisch sind nicht nur Beschränkungen und Übergriffe durch Behörden und Bürokratien, sondern vor allem auch die soziale Indifferenz und oftmals Kälte, die einem entgegenschlägt und der die Gezeichneten aufgrund ihrer Sprach- und Hilflosigkeit nichts oder wenig entgegenzusetzen haben.
Soziale Regression kann nicht mehr primär anhand sozialer Positionierung von Klassen beschrieben werden. Es geht nicht um die Klassenzuordnung, sondern um Deklassifizierung und Deklassierung, was meint, dass die Menschen aus ihren Strukturen herausfallen, zum Beispiel die Arbeit verlieren, aber Arbeitsnomaden bleiben, kein Geld haben, aber Geldsubjekte sein müssen. Die Deklassierung betrifft nicht nur das sogenannte Proletariat, sie ist allumfassend.

Dieser Beitrag wurde vom Autor für Das Blättchen gekürzt. Ausführlich ist er nachzulesen in Streifzüge Magazinierte Transformationslust, Nr. 64/2015.