18. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2015

Zu Gast beim BND

von Norbert Podewin (1935 – 2014)

Anfang 2014 informierte mich ein Freund, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) an der Aufarbeitung seiner Geschichte tätig sei und eine Arbeitsgruppe bereits Ergebnisse zu bestimmten Themen – 17. Juni 1953, 13. August 1961, Kuba-Krise – publiziert habe. Ich griff als höchst interessierter ehemaliger Nazijäger der damaligen Arbeitsgruppe Albert Nordens und Mitgestalter des „Braunbuch – Nazi- und Kriegsverbrecher in der BRD“ zum Berliner Telefonbuch. Hier fand ich einen entsprechenden Anschluss und erhielt beim Anruf eine Adresse in Berlin-Steglitz. Daraufhin schrieb ich das Amt an. Meine Anfrage: Wie könne ich in den Besitz entsprechender Publikationen kommen.
Wenige Tage später hielt ich zwei dickleibige „Büchersendungen“ zu insgesamt sechs speziellen Themen in meinen Händen.
Als korrekter Preuße bedankte ich mich per Telefonat beim Absender. Arbeitsgruppenleiter Dr. Bodo Hechelhammer ließ mich dabei wissen, dass bereits die nächste Veröffentlichung seines Teams an meine Adresse adressiert sei und bekundete lebhaftes Interesse an einem persönlichen Gespräch in seiner Dienststelle. Wenig später bekräftigte er das in einem persönlichen Brief an mich. So machte ich mich denn am 10. April 2014 auf den Weg. Der Einlader hatte eine genaue Straßenkarte zu meiner Orientierung beigelegt.
Der Komplex am Gardeschützenweg wird dominiert von einem riesigen Kasernenareal aus der Kaiserzeit; zahlreiche dunkelrote Gebäude mit hohen Außenmauern und in sehr kurzen Abständen bestückt mit Überwachungskameras. Am Eingangsbereich Tietzenweg war ich offensichtlich bereits vermerkt und wurde nach Namensnennung unverzüglich weitergeleitet. Im nächsten Gebäude kamen dann zwei Mitarbeiter auf mich zu, die sich nicht namentlich vorstellten, mich aber in einen großen Gesprächsraum einluden.
Beide Herren zeigten reges Interesse an diversen Details zur Entstehung der drei Auflagen des „Braunbuches“ (Juli/November 1965; 1968). Die Gastgeber waren ganz offensichtlich über viele Vorgänge der Entstehungsgeschichte informiert. Verblüffung kam erstmals auf, als ich mitteilte, dass an der Daten- und Aktensuche bis zur Fertigstellung der 1.200 Täterbiografien insgesamt 15 Mitarbeiter des Westbereichs im Nationalrat der Nationalen Front tätig gewesen waren. Hilfskräfte oder gar heute übliche externe „Beraterfirmen“ waren in unseren insgesamt Arbeitsgruppen (Staatsapparat, Justiz, Wirtschaft) unbekannte Begriffe. Wir reisten selbst in die Archive der Warschauer Vertragsstaaten und suchten intensiv und weitgehend erfolgreich.
Ich ließ meine Gesprächspartner auch wissen, dass alle westlichen sachlichen Beurteilungen und entsprechende kritische Feststellungen jederzeit sofort registriert wurden und gegebenenfalls zu Korrekturen führten. So gab es immer Probleme bei Dokumenten (zum Beispiel Todesurteilen), die nur mit Familiennamen sowie der Amtsbezeichnung – z.B. „Müller; Kriegsgerichtsrat“ – gekennzeichnet waren. Von uns dabei irrtümlich ergänzte Vornamen änderten nichts daran, dass die uns nachgewiesene Fehlerquote bei den insgesamt dokumentierten Täterbeschreibungen ganze 0,17 Prozent betrug!
Ich beschrieb sehr anschaulich aus eigener Erfahrung, wie seitens verantwortlicher Instanzen der Bundesrepublik gegen das „Braunbuch“ vorgegangen wurde. Als Verantwortlicher für die dem Nationalrat zur Verfügung stehenden Exemplare gab ich sie beispielsweise an Friedenaktivisten wie Beate und Serge Klarsfeld weiter, die mir heute noch dafür bei Begegnungen dankend die Hand schütteln. Es fanden sich auch zahlreiche junge Gäste ein, die ich später als Aktivisten der „68er Revolten“ in Dokumentaraufnahmen wiedersah. Sie verabschiedeten sich mit Bemerkungen wie, sie müssten sich nun bei der Reise in die BRD als „Schmuggler“ auszeichnen, um nicht abgestraft zu werden.
Der perfideste Angriff bundesdeutscher Behörden erfolgte im September 1967 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. Das dort vorgestellte „Braunbuch“ wurde beschlagnahmt, worauf die DDR-Aussteller ihre Stände schlössen.
Im Jahre 2002 stellte ich zusammen mit dem ehemaligen Nationalrats-Verantwortlichen Dr. Gerhard Dengler den Nachdruck der dritten Auflage vor; die Nachfrage hält bis heute deutschlandweit an!
Im 2010 erschienenen Sachbuch „Das Amt“ zu braunen Wurzeln des heutigen Auswärtigen Amtes findet sich folgende Textstelle: „Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts standen die Außenpolitik der Bundesrepublik und ihr Auswärtiges Amt unter Dauerbeschuss aus dem Osten, vor allem aus der DDR. Nicht nur deren ‚Braunbuch‘ von 1965 verwies auf die hohe personelle Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Amt und auf die NS-Belastung höherer westdeutscher Diplomaten. Die Angaben in dem Buch trafen zum allergrößten Teil zu, aber weil die Vorwürfe aus der DDR kamen, halfen […] im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges eher, als dass sie ihnen schadeten. Und sie trugen dazu bei, dass die in den späten vierziger und fünfziger Jahren entstandenen Geschichtsbilder und Geschichtslegenden erhalten blieben und fortwirkten.“
Meine Gesprächspartner beim BND am 10. April 2014 unterbrachen mich kaum, wollten aber dann wissen, wie wir denn Einsicht in westliche Archive gewannen, die uns ja bis zum Ende der DDR verschlossen geblieben seien. Ich konnte nur bestätigen, dass diverse DDR-Angebote zum Abschluss eines Rechtshilfe-Abkommens zwischen den beiden deutschen Staaten nie realisiert wurden. Wenn wir dennoch Detailkenntnisse aus westlichem Bestand erhielten, so waren sie DDR-Aufklärern zu danken. Ich erklärte meinen Gegenübern auch, dass unsere Zusammenarbeit mit der MfS-Behörde IX/11 (Nazi-und Kriegsverbrechen) unter Albert Nordens Koordination über alle Jahre eng und erfolgreich verlief, was widerspruchslos, kopfnickend akzeptiert wurde.
Unser Gespräch im BND-Komplex ging nach zwei Stunden zu Ende. Meine Gegenüber dankten und brachten – nunmehr für mich überraschend – eine Bitte vor: Man hätte im Bibliotheksbestand des BND ein Exemplar der Erstausgabe des Braunbuches; ob ich bereit wäre, es mit einer persönlichen Widmung zu versehen? Diesem Wunsche bin ich sehr gern nachgekommen. Noch mehrfach dankend wurde ich dann zum Ausgang geleitet und trat die Heimfahrt in mein östliches Berlin an.

Dieser Beitrag wurde dem Blättchen aus dem Nachlass des Autors, der mit zeitgeschichtlichen Beiträgen in den vergangenen Jahren auch zu diesem Magazin Substanzielles beigetragen hat, zur Veröffentlichung übergeben.