von Margit van Ham
Vielleicht erinnern sich einige Leser an die Schriftstellerin Elisabeth Schulz-Semrau. Sie war in der DDR mit Romanen und Erzählungen bekannt geworden (hier sei die „Suche nach Karalautschi“ genannt). Wie viele ihrer Kollegen aus dem Osten fand sie nach der Wende mit neuen Erzählungen und einem Lyrikband nur noch wenig Beachtung. 1931 wurde sie in Königsberg geboren, und wie man ihren späteren Werken entnehmen kann, hat sie sich ein Leben lang dorthin zurückgesehnt. Nach Karalautschi, so der ihr vertraute litauische Name der Stadt. „Bis heute sind mir die breiten Worte meiner Kindheit wie Hängematten, in denen man sich aufgehoben weiß.“ 1983 schrieb sie über die Angst, ihre Stadt nicht mehr zu sehen. „Seit mehreren Jahren […] versuche ich dahin zu kommen, wo ich geboren bin. Bis Lettland, schließlich bis Litauen habe ichs geschafft […] Und obwohl sie (die Stadt – M.v.H.) da ist, nicht verschwunden wie dieses Vineta, fürchte ich sie zu verlieren. Ohne meine Kindheitslandschaft würde ich sein wie jener Mann, der seinen Schatten verkaufte.“
Sie hatte die Ursachen der Vertreibung nie vergessen, dennoch war da dieser Verlust, der lange Jahre nicht in Worte gefasst werden konnte. Es war verpönt, über die alte Heimat zu reden. Christa Wolf hatte mit ihren Kindheitsmustern eine Tür aufgestoßen, aber das Thema blieb schwierig. „Die Suche nach Karalautschi“ erschien 1984, 1990 dann „Drei Kastanien aus Königsberg“, Tagebuch einer Reise nach Kaliningrad. Sie hatte ihre Stadt also anlässlich der Feierlichkeiten zum Geburtstag von Immanuel Kant endlich besuchen können. Sie fand nur wenig Vertrautes.
Elisabeth Schulz-Semrau hatte bis 1967 als Lehrerin gearbeitet, studierte dann am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ und lehrte dort vierzehn Jahre lang. Die Wende erlebte sie als Freiberuflerin. Sie wurde bald in anderer Weise wieder Lehrerin. Ehrenamtlich leitete sie von 1991 bis in dieses Jahr hinein im Frauenzentrum Paula Panke in Berlin den Zirkel „Frauen schreiben Texte“.
Hier habe ich sie 2009 kennengelernt, sie und ihre lange Suche nach Karalautschi, und nahm einige Jahre am Zirkel teil. Ich gebe zu, dass ich zunächst irritiert war, weil die meisten der selbstbewussten Teilnehmerinnen so deutlich älter waren als ich und sich mir ganz automatisch die Frage nach „Alter“ aufdrängte und die, ob ich diese massive Konfrontation mit dem Thema schon annehmen möchte. Ich bin froh, dass ich neugierig war, eine ganz neue Welt von Lebenserfahrungen hat sich für mich geöffnet.
Die sehr persönliche Dimension von Flucht, Vertreibung, Krieg und Vergewaltigung wurde mir erst bei diesen Frauen so richtig bewusst. Ich hatte keinerlei Vorstellung über diesen bis heute währenden intensiven Schmerz, der so lange kein Ventil gefunden hatte. Das öffentliche und private Schweigen hat ihn nicht besänftigen können und der Verdacht auf „Revanchismus“ lag immer so nahe. Plötzlich brachen die Dämme und die Geschichten der Zirkelteilnehmerinnen berührten in Schmerz, Sehnsucht, selbst heiterem Erinnern – und so manches Mal in gekonnter Sprache.
Die Frauen haben im Zirkel über ihre Texte diskutiert und gestritten. Die Ergebnisse wurden in Lesungen sowie in drei Anthologien „Feder Lesen“, herausgegeben von Paula Panke e.V., vorgestellt. Elisabeth leitete, moderierte, lehrte. Sie war dabei verständnisvoll, aber auch herb, manchmal kratzbürstig, und die Frauen nicht immer gekonnt im Annehmen oder Austeilen von Kritik. Sehr viel weiser wird mensch in dieser Hinsicht wohl auch im Alter nicht. Aber – jeder Streit brachte einen verbesserten Text hervor. Wichtig war Elisabeth Schulz-Semrau neben der Textqualität das gekonnte Vorlesen. Immer wieder hakte sie hier ein, „Kinder, Ihr müsst Eure Texte besser lesen…“. Texte, die sie durchaus stimmgewaltig vortrug, lebten.
Die Gruppe musste so manchen Tod beklagen, mit Krankheit umgehen, schließlich auch mit der nachlassenden Kraft ihrer Leiterin. Eine Konfrontation mit dem Alter, der man sich nicht gern stellt, aber das trotzige Thema einer nächsten Lesung sollte „Altern“ sein. Elisabeth Schulz-Semrau, Lehrerin und Schriftstellerin, ist am 10. September gestorben. Über ihrer Todesanzeige steht ein Vers von Ernst Wiechert. Er passt zu ihr.
Gekämpft und geliebt und gelitten
und die Herzen gekränkt und gefreut,
und den Kreis doch ausgeschritten
und die Saat doch ausgestreut.
Lesung mit Texten von Elisabeth Schulz-Semrau am 29. Oktober, 16.00 Uhr im Frauenzentrum Paula Panke e.V. (auch für Männer offen), Schulstraße 25, 13187 Berlin.
Schlagwörter: Elisabeth Schulz-Semrau, Königsberg, Literatur, Margit van Ham, Paula Panke e.V., Vertreibung