18. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2015

Querbeet (LXII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal Nibelungen-Deppen, Meistersinger in Schwarz-Rot-Gold und Lars, ein Bundeswehr-Kampfflieger …

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„Die Geschichte der Menschheit macht zuweilen einen Eindruck, als ob sie der Traum eines Raubtiers wäre.“ Ein Satz von Friedrich Hebbel (1813-1853), der als Grundsatz für sein Denken und Dichten stehen mag und als Leitsatz für „Die Nibelungen“, mit denen im Dresdner Schauspielhaus die neue Saison begann.
Die Vorlage ist geradezu gigantisch: das mittelalterliche, den Homerschen Epen an Wucht nicht nachstehende „Nibelungenlied“, dessen Katastrophenhaltigkeit aus dem Übermut und Starrsinn seiner Helden (Helden?) wuchert. Hebbel machte die monumentale Verserzählung als Mehrteiler mit insgesamt zehnstündiger Spieldauer für die Bühne „flüssig“. Und da kommt einiges zusammen: Sexskandal, Ehedrama, Psychothriller, Politintrige, Krieg, Massenmord – bis hin zum Weltgericht. Schuld daran haben die Entscheidungen der Mächtigen, ihre selbstzerstörerische Gewaltpolitik, die fatale Nibelungen-Mechanik aus Verbrechen und Rache, das archaische „Zahn um Zahn“, der vernichtende Krampf des ewig alten Bärenfell-Menschen im Clinch mit der fernen Sehnsucht nach Glück und Frieden, Leben und Erlösung vom Übel. Eine das Menschheitliche umspannende Tragödie mit hochkomischen, grotesken, ja absurden Momenten.
Davon war im Dresdner Drei-Stunden-Kurzcomic keine Rede; von Hebbel-Sprechblasen abgesehen. Dafür gab’s Nibelungen-Verwurstung mit Kitsch-Beilage. Aus Angst, sich dem Ernst der Lage zu stellen (auch jenseits des Theaters), organisierte der aus Ostberlin stammende, sich total cool dünkende Regisseur Sebastian Baumgarten (46) eine unentwegte Kasperei und Raserei hysterischer Deppen, die schweißtreibend toben, kreischen, brüllen und mit der Knarre fuchteln. Eine Theatervernichtung, gähnend langweilig.

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Pünktlich zum 25 Jahre alten neuen Staatsfeiertag der Deutschen auch in Berlin ein sagen wir „Kern“-Stück der Nation – quasi parallel zu Hebbels Tragödien-Saga, aber doch eher zufällig: Richard Wagners von Tragik zart verschattete Komödie „Die Meistersinger“ an der Staatsoper im Schillertheater, ihrem Interim, solange noch das Stammhaus Unter den Linden baulich saniert wird.
In Berlin jedoch ist alles anders. Da wurde nichts verjuxt, verzwergt und klein gehackt, da wurde der Autor ernst genommen, freilich überhaupt nicht bierernst. Vielmehr gab die aus Dresden stammende Regisseurin Andrea Moses (43) die große Komödie, Hebbels Tragödie aber fand ja gar nicht erst statt.
Dabei kann es auch mit Wagner schnell schief gehen. Doch die Regisseurin war souverän genug, ihrem Autor zu vertrauen. Und so gelang ihr ein Meisterstück im Handwerklich-Technischen. Und obendrein ein Mut-Stück im Denken.
Wir alle wissen um die problematische Rezeptionsgeschichte des Werks (Hitlers Lieblingsoper etc.). Worüber vorschnell vergessen wird, dass Wagners hehrer Appell, die deutsche Kunst und ihre Meister unbedingt hoch zu halten, eine Mahnung ist, in der allerdings auch eine Warnung vor Wahnhaft-Irrationalem mitschwingt, sich ohne Hochmut auf das Beste zu besinnen, was die Deutschen haben: nämlich ihre Kunst. Und dieser Ruf gegen eine gerade heutzutage dräuende, gerade heutzutage höchst fatale Geringschätzung steht in engem Zusammenhang mit 1848, dem Vormärz, dem freiheitlich-demokratischen Schwarz-Rot-Gold der Paulskirche – und nicht etwa mit (dem späteren) Schwarz-Weiß-Rot oder Braun.
Eingedenk dieser kraftvollen Wurzel des Werks inszenierte Andrea Moses „Die Meistersinger“ ungeniert und doch liebevoll ironisch gerahmt in Schwarz-Rot-Gold; oder genauer gesagt: völlig durchdrungen von diesen Farben einer guten Hoffnung. Und das nicht nur sinnbildlich, sondern konkret mit riesiger Fahne vom Boden bis hinauf in den Kunst- und Opernhimmel. Das hat sich – warum eigentlich? – bislang keiner so getraut. Geradezu genial das Quintett im dritten Akt: Sachs, Eva, Stolzing, David, Magdalene fassen wie zum Fahneneid das Tuch und singen sich hoffnungsfroh die Glückseligkeit aus dem Herzen. Da wird Wagners so betörende Komposition für bewegende Momente zu einer Art neuer Nationalhymne. Sensibel und originell gedacht und groß gemacht. Schier überwältigend und unvergesslich.
Ansonsten konzentriert sich die Regie geschickt und genau auf die psychologisch (und sozial) so überaus vielschichtige, dabei von tragischen und grotesken Einschlägen nicht freie Menschenkomödie. Mit „Verstand, Witz und Kenntnis“, so wie es Wagner notierte. Obendrein schafft Moses das Kunststück (im Verbund mit ihren Ausstattern Jan Pappelbaum und Adriana Braga Peretzki), das monumentale Breitwand-Opus voller Menschengewusel völlig unangestrengt im gänzlich heutigen Outfit zu illuminieren. Da ist im Wesentlichen nichts oktroyiert oder eingepflanzt, was nicht den Intentionen des Autors entspräche. Ein gelöstes Publikum feierte stehend und lang anhaltend den sechsstündigen Abend, der natürlich auch vornehmlich durch die musikalische Leitung des genialen Daniel Barenboim zum Großereignis avancierte. Nebenbei bemerkt: Es war Barenboim, der auf Andrea Moses pochte; in Sachsen war man einfältig genug, auf altbackene, kleinkariert avantgardistische Verballhornungsregie zu setzen. Der schöne Lohn für Berlin, Barenboim, Moses: Das helle Wagner-Glück auf der Bühne, im Graben und im Saal.

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Schon im Voraus 14 Anzeigen von deutschen Bühnen fürs Nachspielen eines neuen Stücks. Das schafft so schnell kein zweiter Autor. Doch der Jurist Ferdinand von Schirach, Jahrgang 1964, ist als sympathisch unterkühlt, aber enorm spannend schreibender Bestseller-Autor von Erzählungen und Romanen berühmt genug, dass schon jetzt seine erste Arbeit fürs Theater mit dem marktschreierischen Titel „Terror“ zum wohl meistgespielten Stück der Saison avanciert.
Aber: Es ist kein gutes Stück, was da an Berlins Deutschem Theater uraufgeführt wurde. Es ist ein Gerichtsprotokoll, das wiederum auch nicht wirklich die (in der Regel ansteigende) Dramatik eines juristischen Prozesses spiegelt. Vielmehr wird da in einer teils an den Haaren herbeigezogenen, teils populistisch einseitigen und klischeehaften Plauderei über einen schier unauflöslichen Gewissenskonflikt schwadroniert.
Es geht um den angenommenen, tatsächlich jedoch so gar nicht lebensfernen Fall, dass ein Bundeswehr-Kampfflieger ein von Terroristen entführtes Flugzeug abschießt, weil es, so die Ansage der islamistischen Selbstmordattentäter, in die Münchner Allianz-Arena gestürzt werden soll. Nur der Abschuss der Zivilmaschine mit 164 Passagieren an Bord kann die Katastrophe verhindern, in der 70.000 Stadionbesucher den Tod finden würden. 164 Geopferte retten viele Tausende. Ist der Kampfflieger namens Lars Koch – als Mörder – nun schuldig? Darüber wird zwei Stunden lang hölzern hin und her geredet. – Hin heißt: das Gewissen des Angeklagten, seine Moral. Her: Das ist die höhere Ordnung, die gesetzliche Verfassung, die es verbietet, Menschenleben einander aufzurechnen.
Tolles Thema – eigentlich. Aber alles bleibt beim flachen Gerede. Unangemessen hinsichtlich der Komplexität des Konflikts (historisch, philosophisch, metaphysisch – ein paar Zitate von Kant und aus dem Grundgesetz machen den Diskurs-Kohl auch nicht fett). Unangemessen aber auch hinsichtlich des Dramatisch-Theatralischen (psychologisch, sozial). Da raschelt ein Jurist mit Material.
Und die braven Schauspieler stehen an der Rampe mit etwas Einfühlerei, die sie getrost sich hätten sparen können. Arrangeur der flauen Veranstaltung ist der wie Moses gleichfalls aus Dresden stammende Regisseur Hasko Weber (51); er hätte den Mimen das Script zum Ablesen in die Hand drücken sollen, spart Auswendiglernen. Zum Finale des blassen Gedankenexperiments kommt ein spektakulär gedachter Gag: Das Publikum muss in der Rolle des „Schöffen“ für „Schuldig“ oder „Unschuldig“ abstimmen über den umstrittenen Flieger, indem es nach kurzer Pause durch entsprechend gekennzeichnete Saaltüren zurückzuströmen hat. Lars Koch wurde mit 255 zu 207 Stimmen freigesprochen.