von Erhard Weinholz
„Aalex“ sagen manche zu ihm, dem Alexanderplatz in Berlins Mitte. Es sind die falschen oder Möchtegern-Berliner, die so reden, Leute, die sich für Hauptstadtkenner halten, ohne es wirklich zu sein. Der richtige oder echte Berliner sagt „Allex“; er definiert sich geradezu dadurch. Bei heimischen Ortsnamen betont er zudem fast immer die Endsilbe, siehe Bernau, Grünau, nicht etwa Bernau und Grünau. Seine Sprechweise gewinnt durch all das etwas Bellendes, das, wie mir scheint, gut zu seinen sonstigen Eigenarten passt.
Es gibt viele unbekannte Berliner und ein paar bekanntere; der bekannteste heißt Franz Biberkopf und war gerade hier, am Alexanderplatz, viel unterwegs. Doch hat der Ort, wie wir ihn derzeit sehen, mit dem damaligen kaum mehr als den Namen und die Lage gemein. Geblieben sind nur die Bahnhöfe mit den treppauf, treppab hastenden Fahrgästen und der schlechte Ruf der Gegend. Damals, in den Zwanzigern, wohnte viel einfaches Volk in den Vierteln rundum, auch waren zwielichtige Gestalten dort gern zu Hause. Maßgeblich für den Ruf waren aber natürlich die sogenannten besseren Kreise. Gibt es die in Berlin auch heute noch? Keine Ahnung. Etlichen Autoren jedenfalls, Autoren immerhin aus besseren Gegenden wie Frankfurt oder München, gilt der Platz heute als zugige Ödnis, als Heimstatt von Desperados, als Gelände, das man möglichst rasch und unauffällig hinter sich bringen sollte. Auch von gastronomischer Wüste ist zu lesen. Gut, das will ich gelten lassen. Es muss wohl am Publikum liegen: Die beiden größten Lokale haben schon vor Jahren, ohne Nachfolger zu finden, geschlossen – der Italiener mit der schwarzen Gondel vor der Tür im ehemaligen Haus der Elektroindustrie und das Selbstbedienungsrestaurant ganz unten im Alexanderhaus. Es hatte etwas Höhlenartiges an sich; manches Mal habe ich dort gesessen und mich geradezu geborgen gefühlt.
Überlebt hat allein das DINEA oben im Galeria Kaufhof, vormals Centrum Warenhaus. Auch hier Selbstbedienung. „Massenabfertigung“ murmeln die Autoren aus besseren Gegenden. Doch ich sitze gern und entspannt inmitten des Volkes. Still und manierlich verhält es sich in diesen Räumen, ganz anders als andernorts in gewissen Oktoberfest-Zelten. Auf Büffets und an Theken ein breites Angebot an Hauptgerichten, Suppen, Salaten, Kuchen, Desserts und noch mancherlei mehr. Etwas teuer ist das alles für meinen Geschmack. Aber man kann sich ja auf einen Kaffee beschränken und seinen Kuchen von woanders her mitbringen – das fällt überhaupt nicht auf. Und dann setzt man sich ans Fenster und schaut hinunter auf den Platz. Fast jeden Tag ist da unten etwas los. Mal zeigt die Feuerwehr ihre Technik, mal informieren die Krankenkassen, aber meist ist irgendein Markt im Gange. „Oktoberfest“ nennt sich, was derzeit läuft. Viel Weiß-Blau hat man ausgebreitet, viel Bier wird ausgeschenkt. Ansonsten die üblichen Buden mit Schals und Portemonnaies, Bratwurst und gebrannten Mandeln, mit Schnickschnack aller Art. Wieder steht da der Kiosk mit der Windmühle obenauf, wieder dreht sich das immer gleiche alte Karussell. Dazwischen vom Morgen bis spät in den Abend ein Gewimmel von Touristenpaaren, Schülergruppen, Rentnergruppen und all jenen, die man einst „unsere Werktätigen“ nannte, von Leuten also, mit denen die Autoren aus den besseren Gegenden möglichst wenig zu tun haben wollen. Und dies Volk vergnügt sich, auch wenn nichts Besonderes geboten wird, vergnügt sich auf dem Platz nicht minder als an den Tischen oben im DINEA.
Im Grunde herrscht auf dem Alexanderplatz eine fast schon immerwährende Volksfeststimmung. Eine Stimmung, die es früher, zu DDR-Zeiten, hier nur gleichsam auf Marken gab, beim großen Solidaritätsbasar Anfang September, vielleicht noch am 1. Mai. Sie war aber auch an solchen Tagen, wie mir scheint, etwas anders als heute, hatte für mein Empfinden ein bisschen was Offizielles, leicht Gedämpftes an sich. Einmal habe ich auf dem Platz auch ein Fest zum Tag der Republik erlebt: am Abend des 7. Oktober 1989. Vierzig Jahre DDR – es war die reinste Totenfeier. Die meisten Verkaufsstände leer. Kaum Gäste im Freiluft-Restaurant. Ganz in der Nähe die ersten Demonstrationen. An der Weltzeituhr wurde heftig diskutiert: Weg mit Honecker und dem Politbüro, Pressefreiheit her, ordentliche Wahlen, bessere Versorgung. Auch ich wollte, seit langem schon, eine andere, bessere, wirklich demokratische DDR. Wenn aber Westler kamen und über diesen Staat meckerten, dann sagte ich: Na, hörnse mal, gucken Sie sich mal Ihren Laden an, die sogenannte BRD – Atomraketen, alte Nazis, massenweise Arbeitslose … nee danke! Denn ich dachte mir: Die wollen es doch bei uns bloß so haben wie bei sich zu Hause.
Ähnlich geht es mir mit dem Alexanderplatz. Eigentlich ist das ja gar kein Platz, sondern nur eine Restfläche. Und der ganze Rummel da steht mir manches Mal bis sonst wo, mitsamt etlichen Teilen seiner Besucher. Etwa den dauerblödelnden Berliner Primark-Prolls. Ich will den Alex aber auch nicht als Treffpunkt dieser Hochbedeutsamkeitstypen mit den mal sonoren, mal näselnden Stimmen, den wehenden Mänteln, dem tiefsinnigen Botho-Strauß-Blick. Und Kollhoffs Türme will ich schon gar nicht.
Ja, wie soll er denn stattdessen aussehen, der andere, bessere Alexanderplatz? Welche Reform oder Revolution könnte ihn überhaupt zustande bringen? Wäre es nicht am besten, ihn so zu lassen, wie er ist?
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