18. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2015

Erlesenes – Ulbricht und Adenauer im Vergleich

von Wolfgang Brauer

Sebastian Haffner bezeichnete ihn als den erfolgreichsten deutschen Politiker des Jahrhunderts und zugleich den bestgehassten: „Sein Name ist Ulbricht.“ Haffner stellte Walter Ulbricht neben Konrad Adenauer und beide gemessen am Erfolg ihrer Politik in eine Reihe mit Otto von Bismarck. Er maß natürlich mit den jeweiligen Maßstäben dieser Politiker und konnte den „Tacitus-Blick“ nicht verbergen: Dessen Lob der Germanen hatte viel mit den vom römischen Historiker verabscheuten Zuständen des Imperiums selbst zu tun. Haffner stand damit nicht allein.
Auf solchen Urteilen fußend legte jetzt Günter Benser, Historiker und profunder Kenner ulbrichtschen Denkens, bei „spotless“ eine Studie vor, in der er versucht, Ulbricht und Adenauer in ihrer Wirkung nicht einfach gleichzusetzen, sondern sie einem tiefer schürfenden historischen Vergleich auszusetzen. Dieser Ansatz ist vielversprechend.
Benser konstatiert bei beiden Politikern sehr ähnliche „politisch relevante Charakterzüge“ und bescheinigt sowohl Konrad Adenauer als auch Walter Ulbricht einen ausgeprägten Realitätssinn, gepaart mit einem entwickelten strategischem Verständnis für die Begründungen, die Rahmenbedingungen und die Wirkungspotenziale ihrer Politikansätze. Sie waren bei beiden längst nicht so starr, wie ihnen von Nachfolgern und Konkurrenten unterstellt wurde. Günter Benser konzentriert sich – für einen Historiker, der zudem noch den als Historiker agierenden Ulbricht persönlich erleben konnte, nicht ungewöhnlich – auf die Bewertungen historischer Prozesse und Geschehnisse durch seine Protagonisten. Er spannt dabei den Bogen von der bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zum Potsdamer Abkommen und dem Untergang dieses Reiches im Jahre 1945. Benser fördert dabei manche Äußerung zutage, die den Leser zumindest zum Nachdenken über die Belastbarkeit allzu fest gefügter Wertungskonstrukte bringen kann. Leider fällt er gelegentlich in alte propagandistische Abwehrreflexe zurück: Wenn er auch einräumt, dass die Kritik am ulbrichtschen Verschweigen des stalinistischen Terrors in der achtbändigen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ berechtigt gewesen sei, bekommt schon im nächsten Satz Adenauer sein Fett weg. Auch der habe manches verschwiegen, „nicht zuletzt die Verstrickung der in der BRD in Amt und Würden verbliebene[n] deutsche[n] Eliten in die Verbrechen des Hitlerfaschismus.“ Das bestreitet inzwischen kein einigermaßen ernst zu nehmender Historiker in diesem Lande mehr, sollte aber für den selektiven Umgang Walter Ulbrichts mit der eigenen Vergangenheit mitnichten ein Ablasszettel sein. Man liest solche Passagen mit einer leichten Verstimmung.
Interessant sind die Mitteilungen des Autors über die Bewertung geschichtlicher Ereignisse durch Ulbricht und Adenauer, an denen diese mehr oder weniger gestaltend beteiligt waren. Auch wenn man manches vermisst – Benser zieht einen spannenden Bogen vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten. Manche der späteren politischen Entscheidungen der beiden Spitzenpolitiker ihrer jeweiligen Lager werden dadurch verständlicher.
Leider löst Günter Benser das Titel-Versprechen seines Buches nicht ein. Er bietet einen „Streifzug durch das Geschichtsverständnis“ Konrad Adenauers und Walter Ulbrichts und neigt dazu, ihre Äußerungen in „primär historische“ und „primär politische“ zu unterteilen. Methodisch ist dieser – im „Fazit“ seines Büchleins formulierte Ansatz – äußerst unglücklich. Benser hat selbst in den Darstellungen der Abschnitte zuvor die Unsinnigkeit solchen Vorgehens nachgewiesen. Er räumt zum Schluss ein, dass sich beides „nicht sinnvoll trennen“ lasse – um genau dieses als Erklärung zu bemühen, weshalb er in seiner Betrachtung die Nachkriegsgeschichte ausgeblendet hat. „Adenauer wie Ulbricht waren taktisch fast unbegrenzt beweglich und zugleich von eiserner Konsequenz bei der Verfolgung ihrer Hauptziele.“ Günter Benser setzt diese Wertung Peter Benders an den Beginn seiner Schrift. Vom in der Ouvertüre angeschlagenen Thema geht er dann leider wieder ab. Die Staatsgründer und -lenker sind heute für uns von Interesse, mit deren Erbe – also den Früchten ihres politischen Gelingens und Scheiterns – müssen wir uns herumschlagen. Und augenblicklich sieht es so aus, dass die politischen Erben beider keine hinlänglichen Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit finden. Da kann es hilfreich sein, zu den Wurzeln zurückzugehen.

Günter Benser: Ulbricht vs. Adenauer. Zwei Staatsmänner im Vergleich, spotless im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2015, 125 Seiten, 12,99 Euro.