von Heerke Hummel
Wer glaubt, das Thema „Griechenland“ sei mit dem Ausgang der dortigen Septemberwahl vom Tisch, dürfte sich schon bald über seine Kurzsichtigkeit Gedanken machen. Solange das von der EU unter Federführung Deutschlands verhängte Spardiktat aufrechterhalten wird, kann dieses Land, kann Europa nicht zur Ruhe kommen. Das ist die Quintessenz eines Taschenbuchs, dessen Autoren Yanis Varoufakis, Stuart Holland und James K. Galbraith sind. Sein Titel: „Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“. In Angriff genommen wurde das Projekt etwa 2010, als der griechische Staat im Fortgang der weltweiten Implosion des Finanzsystems (2008) insolvent geworden war. Eine zentrale Rolle in der Analyse von Ursachen und Werdegang der Eurokrise spielt Deutschland. Darum ist die Veröffentlichung ihrer deutschen Übersetzung von ganz besonderem Interesse. Denn abgesehen von deutscher Verantwortung in dieser Frage erfahren wir auch, was Yanis Varoufakis als damaliger griechischer Finanzminister seinen EU-Kollegen, allen voran Herrn Schäuble, bei den Verhandlungen in Brüssel vorgeschlagen haben dürfte, wenn er immer wieder aufgefordert wurde, griechische Sparvorschläge zu präsentieren. Es waren keine Vorschläge zum Sparen, sondern, im Gegenteil, Ideen für „mindestens eine Alternative“ dazu, die
a) Europa sehr viel weniger kosten würde als die vormalige, erfolglose „Rettung“ Griechenlands mit einem Kredit in Höhe von 240 Milliarden Euro,
b) Europa zu einer schnellen Erholung verhelfen und
c) keine mühsamen Änderungen an europäischen Verträgen und Institutionen erfordern würde.
„Die Krise in der Eurozone“, schreiben die Autoren, „entfaltet sich auf vier miteinander verbundenen Feldern.“ Es handle sich dabei um eine Bankenkrise, eine Schuldenkrise, eine Investitionskrise und um eine soziale Krise.
Das neueste Phänomen, die Flüchtlingskrise (als Erscheinung der sozialen), war seinerzeit für die praktische Politik (noch!) von geringerer Bedeutung. Die Autoren erwähnen sie daher nicht. Heute unterstreicht aber auch dieses Drama mit seinem obszönen Feilschen um Flüchtlingsquoten, nach denen Menschen in Europa „verteilt“ werden sollen, die Warnung der Autoren vor den zentrifugalen Kräften in der EU, die den Euro zu zerreißen drohen. Auf der Grundlage der bestehenden Institutionen und politischen Strategien, schreiben sie, könne der Euro keinen Bestand haben. Entweder werde es radikale Veränderungen bei den Institutionen der Eurozone geben oder die gemeinsame Währung werde zwangsläufig scheitern, was verheerend für Europa wäre. „Wir müssen rasch handeln“, fahren sie fort, „nicht nur weil die Kluft zwischen den Wirtschaftssystemen der Länder im Zentrum Europas und den Ländern an der Peripherie tiefer wird und die Eurozone zu zerreißen droht, sondern auch weil – und das wiegt noch schwerer – die durch die Krise verursachten sozialen Probleme immer größer werden. Tatsächlich steht nicht nur die Zukunft der Eurozone auf dem Spiel. Wenn der Euro durch die zentrifugalen Kräfte zerrissen wird, …, werden die Folgen seines Zusammenbruchs so schwerwiegend sein und der Aufstieg des Nationalismus so bedrohlich, dass es eine Illusion ist zu glauben, von der EU könne mehr übrig bleiben als ihre Initialen.“
Als Ausweg aus dem Dilemma, dass im System der EU radikale Veränderungen hin zu einer föderalen Struktur notwendig wären, die aber zurzeit nicht zu erreichen sind, unterbreiten Varoufakis und seine Co-Autoren mit ihrem „Bescheidenen Vorschlag“ ein Minimalprogramm zur Lösung der Eurokrise, das „keinerlei Veränderungen an den bestehenden europäischen Verträgen“ verlangt, doch die Architektur der Eurozone grundlegend umbauen würde. Es ist ein Programm mit realistischem Weitblick, könnte die Eurozone zukunftsfähig machen und würde „auf einer zutreffenden Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Europas“ basieren.
Varoufakis, Holland und Galbraith schlagen „vier politische Strategien“ (entsprechend den vier Krisenfeldern) vor, denen sie jeweils eine spezielle „Vorgabe“ zu Grunde legen, in der die Bedingungen formuliert werden, damit ihr Projekt tatsächlich den gültigen Vertragsbedingungen in der Eurozone entspricht. Verhandlungen über Vertragsänderungen würden sich nämlich unabsehbar in die Länge ziehen und eine rasche Überwindung der Krise unmöglich machen. Mit diesen Vorgaben wird nachgewiesen, dass man gerade auch die deutschen Interessen und Standpunkte bei der ursprünglichen Ausarbeitung der Verträge berücksichtigt und auf keinen Fall verletzen will; beispielsweise was die strikte Ablehnung einer „Transferunion“ anbelangt. Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang vom „Prinzip der komplett getrennten Staatsschulden“, das unbedingt zu akzeptieren sei. Und sie denken, „wenn eine Lösung verlangen würde, das Prinzip der komplett getrennten Schulden eines jeden Landes zu verletzen, würde Berlin lieber den Euro aufgeben als diese Lösung zu akzeptieren“.
Mit der ersten Strategie, einem Fall-zu-Fall-Programm für die Banken, soll die von den Autoren ausgemachte derzeitige Sackgasse der Bankenunion umgangen werden, indem sie die Staatsschulden und die Rekapitalisierung der Banken entkoppelt und die Möglichkeit eröffnet, später in Ruhe doch noch eine „echte“ Bankenunion zu schaffen.
Die zweite Strategie betrifft ein beschränktes Umschuldungsprogramm, um den Schuldenberg der Eurozone schmelzen zu lassen, und zwar durch die Umschuldung der „Maastricht-konformen Staatsschulden“ mit Hilfe von Europäischer Zentralbank und Europäischem Stabilitätsmechanismus.
Die dritte Strategie enthält ein investitionsgestütztes Rettungs- und Konvergenzprogramm, um globale Kapitalressourcen in europäische Investitionsvorhaben, insbesondere in der Peripherie, zu leiten.
Und schließlich soll die vierte Strategie mit einem Notprogramm für soziale Solidarität Gelder erschließen, die durch die Asymmetrien im europäischen System der Zentralbanken aufgelaufen sind, um die von der Krise erzeugte Not der Menschen zu lindern.
Der unterbreitete bescheidene Vorschlag zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er das Wohl aller in der Eurozone Lebenden im Auge hat. In ihrer Zustandsanalyse sprechen die Autoren von „einer sozialen Krise unerhörten Ausmaßes, die zuerst die verwundbaren Länder in der Peripherie zu spüren bekamen (zum Beispiel Griechenland, Portugal, Irland), dann aber auch die arbeitenden Schichten in Überschussländern wie Deutschland (wo die Quote der ‚working poor‘, der Menschen, die von ihrem Lohn nicht leben können, in die Höhe geschossen ist).“
Die strikte Sparpolitik und eine Rezession, die sich selbst nährt, hätten von den Europäern ihren Tribut gefordert. Zum ersten Mal innerhalb von zwei Generationen, heißt es, stellten die Europäer das europäische Projekt infrage. Nichts bedrohe den Fortbestand der EU mehr als der stetig wachsende Zweifel der Europäer, ob die EU funktionsfähig ist und ob sie gute Absichten hegt. Als Konsequenz aus dem Versagen von Politikern und Institutionen, der Krise rational zu begegnen – insbesondere der sozialen Krise –, erlebe der Nationalismus eine „Blüte“, die oft sogar im Vormarsch von Neonazi-Parteien ihren Ausdruck findet. Und wenn Europa nicht rasch und geeint handelt, um die soziale Krise zu bekämpfen, die es mit seiner Politik erzeugt hat, würden die Europäer die EU bald als einen Feind betrachten und den Nationalismus als die einzige Alternative. Das müsse verhindert werden, sofort.
Die Brüsseler (deutsch geprägte) Antwort auf solche Warnungen und auf Angebote für eine von Vernunft, Weitblick und Realitätssinn getragene Lösung der griechischen Schuldenkrise ist bekannt: Nein, nein, weiter sparen! Wo ist dafür der Grund zu suchen? Wenn es nicht die persönliche Dummheit von Politikern war, muss es wohl die Absicht gewesen sein, die Herrschaftsinteressen bestimmter Eliten in und über Europa um vermeintlicher nationaler Vorteile willen unbedingt zu sichern. Inzwischen hat die Weltflüchtlingskrise auch Europa erreicht – insbesondere Deutschland, das sich mit seiner Wirtschaftspolitik und seiner EU-Strategie seit Jahrzehnten selbst zum bevorzugten Ziel des Flüchtlingsstroms gemacht hat und sich nun überfordert fühlt. Mag sein – und es wäre zu hoffen –, dass die Not und der Druck vieler Millionen flüchtender Menschen ein Umdenken, vielleicht auch ein Besinnen auf die hier nur grob skizzierten „bescheidenen“ Vorschläge erzwingt.
Yanis Varoufakis, Stuart Holland, James K. Galbraith: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2015, 63 S., 5,00 Euro
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