18. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2015

Technologischer Totalitarismus

von Gabriele Muthesius

Wenn es Dinge gibt, von denen
Sie nicht wollen, dass irgendjemand
etwas darüber erfährt, dann sollten
Sie so etwas nicht tun.

Wir wissen, wo Sie sind.
Wir wissen, wo Sie waren.
Wir wissen mehr oder weniger,
woran Sie denken.

Wir sind überzeugt, dass Portale
wie Google, Facebook, Amazon und Apple
weitaus mächtiger sind,
als die meisten Menschen ahnen.

Eric Schmidt
Chef von Google

Bücher zu diesem Thema sind in diesem Magazin in jüngerer Zeit bereits mehrfach besprochen worden – nämlich die von Aust/Ammann und von Pauen/Welzer –, aber der nun vorliegende Band dürfte der substanziellste in dieser Reihung sein. Es handelt sich um die Beiträge der vielleicht wichtigsten Debatte, die in den vergangenen Jahren im deutschen Feuilleton geführt worden ist – in der FAZ, initiiert vom leider viel zu früh verstorbenen Frank Schirrmacher, dem es nicht zuvorderst um „Fragen der Technik oder Infrastruktur“ ging, sondern um „– im besten Sinne des Wortes – Technologiefolgenabschätzung“, wie Europa-Parlamentspräsident Martin Schulz in seinem Vorwort feststellt.
Dass die Digitalisierung der Welt, so Schulz ebenfalls im Vorwort, ungeahnte Chancen berge für „mehr Transparenz und größere Partizipation, leichtere[n] Zugang zu Wissen und Information, wirkungsvollere Medikamente und bessere Dienstleistungen“ wird in einem Medium wie dem vorliegenden, dass es ohne Digitalisierung gar nicht gäbe, niemand ernstlich in Abrede stellen. Der Punkt ist denn auch ein anderer: „Zu lange […] haben wir die Gefahren ignoriert, die angesichts der Monopolansprüche globaler Konzerne und Massenüberwachung durch die Geheimdienste drohen.“ Wenn Schulz mit „wir“ dabei zuvorderst auch sich und seinesgleichen, also die politische Klasse, meint, wäre das ein erster Schritt in die richtige Richtung. Und in seinem Auftakt-Beitrag zur hier in Rede stehenden Debatte hat Schulz eine weitere Kernfrage zumindest klar benannt – „das Geschäftsmodell von Facebook und anderen“, das darin bestehe, „unsere emotionalen Regungen und sozialen Bindungen in ein ökonomisches Verwertungsmodell zu überführen und unsere Daten gewinnbringend zu nutzen“.
Darüber hinaus zu konstatieren, dass dies im Kapitalismus mit seinem systemimmanenten, ubiquitären Drang nach Verwertung und Gewinnmaximierung letztlich gar nicht anders zu erwarten gewesen ist, wäre von Schulz womöglich zu viel erwartet. Zumindest aber entgeht ihm nicht, dass am Ende des skizzierten Geschäftsmodells „der determinierte Mensch“ stehen könnte und dass damit „dann die Vorstellung vom Menschen, der sich frei entwickeln und der es durch Bildung und harte Arbeit ‚ganz nach oben‘ schaffen kann, endgültig erledigt“ wäre. Damit liegt Schulz im Hinblick auf den „Menschen, der sich frei entwickeln […] kann“, völlig richtig, auch wenn der nachfolgende Aspekt seiner Befürchtung im Hinblick 99 Prozent seiner Zeitgenossen ziemlich irrelevant sein dürfte, weil es in unserem Gesellschaftssystem von denen, die nicht „ganz […] oben“ geboren werden, noch nie mehr als – „gefühlt“ – ein Prozent dorthin geschafft hat.
Nichtsdestotrotz ist Schulz Recht zu geben, wenn er warnt, dass „die Verbindung von ‚Big Data‘, also der gewaltigen Sammelleidenschaft für Daten durch Private und den Staat, und ‚Big Government‘, also der hysterischen Überhöhung von Sicherheit, […] in die antiliberale, antisoziale und antidemokratische Gesellschaft münden“ könnte. „Um das zu verhindern, müssen wir handeln“, so Schulz‘ Fazit. Da wäre es interessant, gelegentlich zu erfahren, wie Martin Schulz dieser Aufforderung, die ja auch eine Art Selbstverpflichtung ist, nachkommt, denn dass er in seiner Funktion dazu Möglichkeiten hat, die den meisten anderen Menschen nicht verfügbar sind, dürfte außerfrage stehen.
Vielen Zeitgenossen allerdings, wahrscheinlich sogar einer Mehrheit, sind die Totalüberwachung durch NSA & Co. sowie die Rundumerfassung und kommerzielle Verwertung ihrer digitalen Kommunikation und sozialen Interaktionen durch Google, Facebook, Amazon und andere Konzerne herzlich egal – jedenfalls egal genug, um in ihrem persönlichen Verhalten keine praktischen Konsequenzen zu ziehen. Das selbstberuhigende Begleitstatement lautet nicht selten: „Ich habe doch nichts zu verbergen.“ Der Anti-Überwachungs-Aktivistin Julie Zeh ist dies in ihrem Beitrag „ein Synonym für ‚Ich tue, was man von mir verlangt‘ und damit eine Bankrotterklärung für die Idee des selbstbestimmten Individuums“. Zugleich macht Zeh die Absurdität von Aufforderungen zur digitalen Selbstverteidigung der Bürger deutlich. So habe der ehemalige Bundesinnenminister Friedrich angesichts der NSA-Überwachung empfohlen: Wer nicht ausgespäht werden wolle, müsse halt auf Facebook verzichten. Der ignoranten Dümmlichkeit einer solchen Einlassung hält Zeh entgegen: „Wer seine digitale Identität selbst schützen soll, dürfte keine sozialen Medien, E-Mail-Dienste oder Suchmaschinen benutzen. Telefonieren ginge schor gar nicht. Vom Kauf eines Smartphones, eines Navigationssystems oder eines neuen Autos mit integriertem GPS wäre dringend abzuraten. Ein Bürger im Zustand digitaler Selbstverteidigung […] sollte weder Bahn fahren noch fliegen und demnächst auch nicht mehr zum Arzt gehen. Eine ordnungsgemäße Registrierung bei den Meldebehörden wäre kontraproduktiv, erst recht die Führung eines Bankkontos […]. Die Liste verbotener Tätigkeiten ließe sich endlos fortsetzen. Am Ende stünde ein aus sämtlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kreisläufen herausgedrängter Mensch.“
Daher gehören die von Hans Magnus Enzensberger unter dem Rubrum „Wehrt Euch!“ in die Debatte geworfenen zehn Imperative, Wertungen und Tipps – „Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg.“ oder „Online-Banking ist ein Segen, aber nur für Geheimdienste und für Kriminelle“, wobei er offen lässt, ob er Banken dabei als subsummiert verstanden wissen will, – eher ins Reich blickschärfender Ironie als in jenes direkter Gebrauchsanweisungen.
Zeh und andere fordern stattdessen vom Gesetzgeber die Schaffung eines digitalen Grundrechtes, „welches personenbezogene Daten unter die alleinige Verfügungsgewalt des Einzelnen stellt“ und der „digitalen Identität ein vergleichbares Schutzniveau [zubilligt] wie der körperlichen Unversehrtheit oder der Unverletzlichkeit von Privateigentum“.
Frank Schirrmacher selbst warnte in der Debatte davor, die Gefahr eines digitalen Totalitarismus durch einen verklärenden Blick auf dessen technologischen Background zu unterschätzen: „Das Abgreifen von Daten in Echtzeit und ihre Umwandlung in Kontroll- und Planungssysteme ist kein Fall-out-Produkt von Technologien, die für ganz anderes gedacht waren, sondern ihre Aufgabe.“
Dass es sich bei den meisten dieser kritischen Stimmen nicht um Maschinenstürmerei handelt, macht der Internet-Aktivist Sascha Lobo in seinem Beitrag mit einem einzigen Satz deutlich, der als Credo für diesen Teil der Debatte gelten könnte: „Es geht nicht um die Ablehnung des Fortschritts, sondern um dessen Richtung.“
Zum anderen, kleineren Teil der Debatte gehört zum Beispiel der Beitrag von Google-Chef Eric Schmidt, dessen Bonmots und Feststellungen an anderen Stellen (siehe die obigen Zitate) in eklatantem Gegensatz zu seinem Lobgesang auf die Segnungen von Google in der FAZ-Debatte stehen.
Nicht zum anderen Teil der Debatte – und das erscheint nur auf den ersten Blick verwunderlich – gehört der Beitrag von Matthias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Springer-Konzerns. Aus der Perspektive eines vergleichsweise wirtschaftlichen Underdogs („Mit 14 Milliarden Jahresgewinn macht Google zwanzigmal so viel Profit wie Axel Springer.“) setzt er sich kritisch mit Schmidt und Google als „Paradebeispiel eines marktbeherrschenden Unternehmens auseinander“. Dabei mag das Bedauern mitschwingen, dass beide Unternehmen, Google und Springer, sich „wirtschaftlich […] in anderen Galaxien [bewegen]“, der Klarheit der Döpfnerschen Analyse ist das aber nicht abträglich. „16 Jahre Datenspeicherung und 16 Jahre Erfahrung von Zehntausenden ÍT-Entwicklern“, so resümiert der Springer-Chef, „haben einen Wettbewerbsvorteil erzeugt, der mit rein ökonomischen Mitteln nicht mehr einholbar ist.“ Was der damit geforderten EU-Kommission bis dato (der Beitrag datiert auf den 14. April 2014) dazu eingefallen war, unterzieht Döpfner einer vernichtenden Kritik („ein zusätzliches Werbegeld-Beschaffungsmodell für Google“), die Francisco Balsemão, Vorsitzender des European Publishers Council, in seinem Beitrag dezidiert teilt.
Mit den intellektuellen Reiz dieser Debatte wie der Schirrmacherschen Orchestrierung derselben macht es aus, dass der dabei hauptsächlich Kritisierte, der seinerzeit zuständige EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Alimunia, auch selbst zu dieser Kritik Stellung nimmt – und sie, wie nicht anders zu erwarten, zurückweist. Jedoch nicht pauschal, sondern argumentativ. An dieser Stelle ist der Leser einmal mehr gefordert, sich sein eigenes Urteil bilden.

Frank Schirrmacher (Herausgeber): Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 283 Seiten, 15,00 Euro.