18. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2015

Informationeller Totalitarismus

von Alfons Markuske

Was Harald Welzer, unter anderem Direktor von FUTURZWEI – Stiftung Zukunftsfähigkeit, umtreibt und womit er sich mit seinem Co-Autor Michael Pauen, Professor am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität, im Buch „Autonomie“ einmal mehr befasst, hat er unlängst in einem Spiegel-Interview so formuliert: „Ich sehe uns auf dem Weg in einen neuen Totalitarismus. Wir denken immer, dass man dafür einen sichtbaren Wechsel des Herrschaftssystems braucht, in Uniform und mit Militärstiefeln. So wie bei den Nationalsozialisten, wie bei Stalin. […] Aber es geht im 21. Jahrhundert vielleicht auch anders.“ Und: „Diktaturen arbeiten immer zuerst an der Abschaffung der Privatheit und des Geheimen und Verborgenen. Denn nur so lassen sich Menschen effektiv kontrollieren. Google und Co. arbeiten […] an der Abschaffung des Privaten. […] Es droht ein Totalitarismus ohne Uniform.“
Anders als bei den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und in den literarischen Visionen von Huxley bis Orwell bleibt dieses Mal die demokratische Fassade unserer Gesellschaft bestehen. Ja sie ist geradezu der ideale Entfaltungsrahmen für den neuen, den digitalen, den informationellen Totalitarismus (auch der Begriff „technologischer Totalitarismus“ ist gebräuchlich, so in einem jüngst unter der postumen Herausgeberschaft von Frank Schirrmacher erschienenen Suhrkamp-Sammelband gleichen Titels), der nicht mit Drohung, Druck und Gewalt in Szene gesetzt und erhalten werden muss, sondern der sich als Verheißung einer besseren Welt – mit immer neuen, immer schneller wechselnden technologischen Konsumtions- und Unterhaltungsangeboten an den Verbraucher wendet, diediesem mehr und mehr Entscheidungen abnehmen, ihm das Leben „vereinfachen“, „erleichtern“, „bereichern“ … Welzer/Pauen gebrauchen das eingängige Bild von „einer permanenten Ausweitung der Komfortzone“.
Auf der Strecke bleibt dabei die Autonomie des Individuums. Doch das wird den meisten Menschen, die überwiegend damit beschäftigt sind, aus den immer neuen Angeboten immer wieder „frei“, also „demokratisch“, auszuwählen und mit diesen Erwerbungen ihre Tage, mindestens ihre Freizeit, zu füllen, gar nicht bewusst. Und warum auch – es fehlt ja praktisch an nichts in der „schönen neuen Welt“. Vielleicht – so etwas wie ein Sinn des Lebens, aber wer braucht den schon, wenn er ganztägig „gut“ unterhalten wird.
In der spätkapitalistischen Endlosschleife von Verwertung und Gewinnmaximierung ist der ewig bedürftige Konsument das idealste aller Schmiermittel – ein Konsument übrigens, dem schlussendlich auch noch der letzte Rest von Autonomie genommen wird, nämlich die Selbstbestimmung über seine Bedürfnisse. Oder, wie es einer der Wizards der „schönen neuen Welt“, Google-Chef Eric Schmidt, trefflich formuliert hat: „Es ist nicht der Job der Verbraucher zu wissen, was sie wollen.“ Wer dies für ein Bonmot hält, der hat noch nicht begriffen, wie und woran Google und Co. arbeiten.
Die Autonomie des Individuums war, so Pauen/Welzer, „eine zivilisatorische Errungenschaft“: „Autonome Menschen können – in gewissen Grenzen – selbst entscheiden, welche Ausbildung sie machen, welchen Beruf sie wählen und mit welchem Partner sie ihr Leben oder Teile davon verbringen. […] autonome Individuen […] können weitgehend selbst bestimmen, was sie tun.“ Solche Möglichkeiten gab es historisch während der meisten Zeit der Existenz menschlicher Gesellschaften nicht, und, wie sich im digitalen Zeitalter gerade herausstellt, könnten ihr Heraufziehen, ihr politisches Erkämpfen über einige Generationen und ihr Bestehen ein insgesamt recht kurzes Intermezzo gewesen sein. „Ergebnisse von Zivilisationsprozessen können rückgängig gemacht werden“, warnen Pauen/Welzer, „Entzivilisierung ist jederzeit möglich.“
Das resultiert nicht zuletzt, worauf Pauen/Welzer ausführlich Bezug nehmen, aus den „Möglichkeiten einer totalitären Ausformung moderner Mediengesellschaften“. Zumal wenn diese einhergehen mit Technologien, die in unserer heutigen Gesellschaft – wie der aktuelle NSA-BND-Skandal nur besonders augenfällig vorführt – quasi bereits ubiquitär sind und zu denen der Philosoph Günther Anders bereits vor 50 Jahren festhielt: „Wo Abhörapparate mit Selbstverständlichkeit verwendet werden, da ist die Hauptvoraussetzung für Totalitarismus geschaffen; und damit dieser selbst.“ Diese Hauptvoraussetzung, so Pauen/Welzer, bestehe in der „Zerstörung von Privatheit“. Wo diese Zerstörung jederzeit, nicht zuletzt auch unsanktioniert, möglich ist, liegt die totale Kontrolle aller allein im Ermessen der Kontrolleure und damit in der Macht derer, die den Kontrolleuren vorstehen – ob das nun der Staat ist oder Internetgiganten sind wie Google, Facebook, Apple oder Amazon oder der Staat im Zusammenspiel mit solchen.
Zugleich konstatieren die Autoren eine „verblüffende Bereitschaft“ in den westlichen Gesellschaften, „die Unterminierung des Privaten zuzulassen“. Sie erinnern in diesem Zusammenhang an die in den 1980er Jahren in der BRD an informationeller Verweigerung breiter Bevölkerungskreise gescheiterte Volkszählung, die im Wesentlichen eigentlich nur Haushaltsgrößen ermitteln sollte, und schlagen den Bogen zum Jetzt: „Heute liefert das Einschalten des Mobiltelefons ein Vielfaches der Daten aus, die man damals standhaft verweigerte.“ Allerdings werde das gegenwärtige massenhafte Individualverhalten „durch ein argumentatives Quartett befördert, das Komfort, Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz ins Feld führt und damit exakt die Bedürfnisse, die auf der Skala der Bewohner reicher Gesellschaften weit oben rangieren“.
Das Fazit der Autoren zum informationellen Totalitarismus ist ein im Grunde zutiefst pessimistisches: „Seine Neuigkeit liegt darin, dass er […] kein Entkommen erlaubt“, und das erreiche er, eben weil er völlig ohne offenen Zwang oder gar Terror auftrete. Im Unterschied zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts liefert der neue daher keine systemimmanenten ständigen Beweggründe zum Sich-Entziehen oder gar zur Akkumulation von gesellschaftlich relevanten Widerstandspotenzialen. Im Gegenteil!
Das bedeutet aber nicht, dass nicht trotzdem unterschwelliger – allgemeiner und höchst wirksamer – Druck auf Individuen, vor allem über schleichende Veränderungen sozialer Standards und gruppendynamische Prozesse, stattfände, der jederzeit auch in offenen Terror gegen Einzelne, etwa über Shitstorms, umschlagen kann. Diesen Aspekt behandeln Pauen/Welzer ebenfalls ausführlich.
Auch nur Ansätze für eine mögliche gesellschaftliche Gegenstrategie und -bewegung liefern die Autoren hingegen nicht, doch formulieren sie zum Abschluss ihrer Schrift einige individuelle Verteidigungsregeln, mit denen man zumindest einmal beginnen könnte – zum Beispiel:

„Verkaufen Sie niemals persönliche Souveränität für monetäre Vorteile.“
„Folgen Sie nie […] Politikern, die Ihnen mehr Sicherheit auf Kosten von Freiheit versprechen. Sie sind entweder schlecht informiert oder böswillig.“
„Üben Sie digitale Askese, wo immer es geht.“
„Soziale Netzwerke (wie immer sie heißen) sind keine sozialen Netzwerke, sondern Produktionsstätten von informationeller Macht über Sie.“
„Glauben Sie nie, dass der annoncierte Vorteil einer technischen Innovation ein Vorteil für Sie ist.“
„Don’t believe the hype. Es gibt erheblich Wichtigeres im Leben als Dinge, die einem Entscheidungen abnehmen.“

Warum wir diese Regeln beherzigen sollten, machen Pauen/Welzer unter anderem mit folgendem historischen Vergleich deutlich: In Berlin konnten zwischen 1941 und 1945 untergetauchte Juden „mit Hilfe von höchst komplexen und verletzlichen konspirativen Hilfenetzwerken überleben“. Das wäre heute unmöglich: Unter „den gegenwärtigen Bedingungen der informationsindustriellen Überwachung“ würde „keiner der ‚Untergetauchten‘“ unentdeckt bleiben.
Dieser makabre Rückgriff auf eine unselige Vergangenheit markiert eine bereits eigetretene gravierende Veränderung im Hier und Heute: „Solange man ein ganz gewöhnliches Mitglied der Gesellschaft ist und bleiben möchte, liefert man ein so umfassendes Datenprofil über sich, dass man dieser Gesellschaft nie mehr entkommen könnte, würde sie sich, aus welchem Grund auch immer, dazu entschließen, einen zu verfolgen.“
Wem dieser Sachverhalt keine Veranlassung gibt, sein eigenes Verhalten zu überprüfen und gegebenenfalls etwas daran zu ändern, bei dem kann das Ziel des informationellen Totalitarismus‘ bereits als erreicht gelten, denn seinen Protagonisten „genügt es völlig, wenn die Menschen tun, was von ihnen gewollt wird“.

Michael Pauen / Harald Welzer: Autonomie, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, 328 Seiten, 19,99 Euro (gebundene Ausgabe).