18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Querbeet (LX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Mozart-Krimi, brennende Bärchenwurst und Lehm bei Lessing…

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„Chez Ölgür“ ist explodiert, ein Zentralpunkt im Wedding, einem plebejisch prallen, mit Migrationshintergründen bepackten Berliner Stadtbezirk. Weil ein Dussel die defekte Gaszufuhr mit Bärchenwurst gekittet hat. Also zahlt die Versicherung nix, und Ahmed Ölgür ist pleite. Da wittert Uwe Gammerdinger (schwäbischer Migrationshintergrund) seine Chance. Anstelle des türkischen Döner-Verzehrstüble will er unter Einsatz seines Bausparvertrags endlich eine Still-Oase einzurichten für seine vegane Männerstillgruppe, sein ganz persönliches gender-emanzipatorisches Kleinprojekt. Doch das selbst für gestählte Weddinger fragwürdige Ansinnen ruft das gesamte Figurenpersonal aus 99 Folgen der lokalen Sitcom „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ im dortigen Prime Time Theater auf den Plan. Unter dem Schlachtruf „Weddinger aller Kieze, vereinigt euch“ sorgen sie im Handumdrehen für die glorreiche Wiederauferstehung von Ögürs abgebranntem Dönerland. Wie Phoenix aus der Asche steht der Laden nach 90 abenteuerlichen Minuten und dem schmissigen Absingen verrückten Liedguts am Ende der 100. Folge von „GWSW“ so schön wie nie wieder da in der Müllerstraße Nr. 163, der zentralen Verkehrsachse des Bezirks, quasi dem Kudamm des Wedding.
100 herrliche Ausgaben in zwölf Jahren! Das ist die sagenhafte Erfolgsgeschichte des kleinen, aber fast alles könnenden Prime-Time-Ensembles – Verwandte im Geist von Heinrich Zille und Claire Waldoff –, das einer großen Idee, nämlich kabarettistischem Volkstheater, zum prallen Leben verhalf. Da vibriert das Plebejische in der Berliner Luft, Luft, Luft – zum Entzücken einer rasend anwachsenden Fangemeinde. „GWSW“ ist mittlerweile Hauptstadt-Kult! Und in der Jubiläumsausgabe, frech frisiert als aberwitzig rockende Musical-Parodie, toben noch einmal all die komisch grotesken „GWSW“-Figurenerfindungen von Star-Autorin und Regisseurin Constanze Behrends übers Brettl. Zum Finale dröhnt die neue Wedding-Hymne im extra genehmigten Udo-Lindenberg-Sound weit hinaus übern Horizont vom Kiez.

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Der große Meister, frisch und froh, wie der Mops im Paletot, empfängt diesmal sein Premierenpublikum blendend gelaunt und braungebrannt vom Frankreich-Urlaub auf eigener Atlantik-Insel an der Pforte seines Schlosspark-Theaters mit Gruß und Gläschen – feiert doch Dieter Jürgen Hallervorden in seinem Berliner Theaterchen, vor Urzeiten die Nebenspielstätte der legendären Staatlichen Schauspielbühnen, seinen 80. Geburtstag. Gratulation!
Ja, stolz kann er sein: Hat er doch die einst still gelegte und arg herunter gekommene Hütte mutig an sich gerissen und mit allerhand Knete aus der Privatschatulle (nebst erquicklicher städtischer Beihilfe) ordentlich aufgerüstet und denkmalpflegerisch korrekt aufgehübscht und mit einem höchst beachtlichen Programm-Mix aufgefüllt, der beileibe nicht nur unter „Boulevard“ firmiert. Ein übrigens fataler Begriff. Schließlich gibt es nur ganz gutes bis ganz schlechtes Theater – andere Begrifflichkeiten sind, ums mit Fontane zu sagen, Mumpitz. Und meist ist es gutes, zuweilen sogar sehr gutes Theater, das Hallervorden in seinem Haus machen lässt. Und dabei gelegentlich selbst mittut auf der Bühne. Wobei immer wieder zu beobachten war: Dieser Künstler ist längst nicht nur TV-Ulknudel im Didi-Star-Status, er hat vielmehr äußerst überzeugend das komplette Zeug zum Charakterspieler. Mit enormer Bühnenpräsenz, für die er sich freilich erst und ziemlich spät ein eigenes Theater herrichten musste. Eine gute Tat für ihn selbst und für Berlin.
Statt der Geburtstagstorte also – was sonst – eine Premiere: „Amadeus“, Peter Shaffers Klassiker von 1979, der vier Jahre später, von Milos Forman verfilmt, ein Hollywood-Welthit wurde. Es geht um den legendenumwobenen, bitter-komischen, kriminalistisch-philosophischen Clinch zwischen dem Wiener Hofkomponisten Salieri und dem Weltklassekomponisten Mozart, dessen globaler Ruhm freilich erst post mortem ins Weltall aufstieg.
Ein herrlicher Abend, beherzt und frisch, gewitzt, trefflich und auch ein bisschen melancholisch. Das garantierte Dreierlei: Ein starkes Casting (Salieri: Marko Pustisek; Mozart: Johann Fohl; Constanze Mozart: Katharina Schlothauer); ein so präziser wie fantasievoller Regisseur (meine Verehrung: Thomas Schendel) sowie ein so effektvoll bewegliches wie filmisch gestütztes Bühnenbild, das die großartige Daria Kornysheva baute. Und so feiern wir einen amüsanten, teils nachdenklich machenden und in gewissen, mozartisch-musikalisch untermalten Momenten zu Herzen gehenden Abend. – Womöglich für einige der Anlass, endlich mal wieder in die Oper zu stürzen. Zu Mozarts so drastisch-irdischen Dramen mit der überirdischen, schier himmlischen Musik. Sie zählen immerhin zum Größten, ja Allergrößten, was das musizierende Theater aufzubieten hat. So gesehen ist dieser Abend – bei allem Weh und Ach um das Genie – auch ein hingebungsvoller Kniefall vor Wolfgang Amadé. Und also ganz im Sinn von Shaffer, Hallervorden sowie uns allen.

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In erhabener Langsamkeit hebt sich – ansonsten selten zu bestaunen in Berlins Deutschem Theater – der dunkelrote, geheimnisumwölkte Samtvorhang. Das Halbrund der Bühne im fahlen Dämmer. In der Mitte ein riesiger, aus rohen Brettern zusammengenagelter Kubus. Davor ein Mann und eine Frau, fast nackt, sich aneinander reibend, die Leiber dick verschmiert mit Lehm.
Ein einsames Paar wie Adam und Eva, entrückt einander hingegeben, dann zunehmend heftiger gestört von einem Haufen, der immer aggressiver wird, nervöser. Alles Lehmlinge wie die beiden selbst, mit glasigen Augen und gespenstig roten Mündern. Schließlich fängt die Horde an zu toben, hetzt wie verzweifelt im Kreis um den hölzernen Verschlag, schleppt Aktentaschen mit sich und auch Einkaufstüten von heutzutage, mimt gestikulierend Aufruhr oder Zusammenbruch. Letztlich fällt der Trupp chaotischer Erdlinge in kollektiven Dauerzwist. Dann stöhnt es qualvoll „O Gott!“. Einer bekommt den Hut mit anverlehmten Schläfenlocken auf den Kopf, und „Nathan der Weise“ beginnt, das edel aufklärerische Traumstück vom großen Frieden unter Christen, Juden, Moslems des protestantischen Theologen Lessing aus Sachsen. Als Ouvertüre diesmal eine aus menschheitlich-mythischem Urschlamm quellende zivilgeschichtliche Pantomime freilich fatalistischer Grundierung: Menschenvernunft seit jeher und wohl in alle Ewigkeit verklebt vom Ekel-Steinzeit-Lehm.
Das Programmhaft liefert das Stichwort dazu aus dem Buch Genesis: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden.“ Dieses Bibelzitat nimmt Regisseur Andreas Kriegenburg kühn zum Konzept für seine Inszenierung von Lessings so eindringlicher Fantasie, dass Toleranz, also Vernunft, ideologische (religiöse) Gräben zu überwinden imstande sei.
Diese offensichtlich extreme Regie-Idee befreit das Stück von seiner lokalen und zeitlichen Einbindung ins Jerusalem der Kreuzritterzeit des 12. Jahrhunderts und bewahrt es, und das besonders, vor jeglicher (naheliegender) tagespolitischer Vereinnahmung („das Stück der Stunde“). Lessings immergrüne Utopie von der Menschheits-Versöhnung (er sah sie ja selbst skeptisch) vermag hier in ihrer ganzen poetischen Herrlichkeit besonders wundersam und hell zu strahlen. Weil sie durch Kriegenburgs mutig originäre Lesart von einer dunklen, lehmig verpuppten Urhorde in einer ertüftelten Fantasy-Steinzeit plebejisch-komödiantisch vorgeführt wird.
Gotthold Ephraim Lessings „Dramatisches Gedicht“ von 1779, ein raffiniert artifizielles Kunstwerk, wird also eingebettet in die raffinierte Abstraktion einer imaginären, biblisch hergeleiteten Archaik. Das mag verkopft klingen, wird aber von der Regie sowie den sprechtechnisch wie gestisch großartigen sechs Schauspielern lässig locker bis hin zu Klamauk und Klamotte lustvoll durchexerziert (Elias Arens, Nina Gummich, Bernd Moss, Julia Nachtmann, Jörg Pose, Natali Seelig).
Lessings Hohelied als saftiges Volkstheater. Eine theatralische Seltenheit, wie hier diese an Comics und Knetfiguren aus Animationsfilmen erinnernden Lessing-Figuren der Menschheit Dauer-Elend im ewig haftenden Steinzeit-Urschlamm, wie sie ihr wild frivoles Suhlen darin und ihre rührende, zuweilen streng pathetisch formulierte Sehnsucht nach Reinheit und Schönheit hinreißend aufzeigen – ohne Lessing je mit Lehm zu verkleistern. Denn immerhin gilt: noch immer ist Steinzeit – „der Jude wird verbrannt“, und nicht nur der. Und dazwischen in erschütternder Klarheit: die Ringparabel (Jörg Pose!) als unvergesslicher Gänsehautmoment.
Da haben wir das so inständig gewünschte Theater, das mit seinen ureigenen, auf provozierende Weise zur Schau gestellten Mitteln dem Autor keck und demütig zugleich dient. Mit allein sechs Spielern, die wechselseitig in alle „Nathan“-Rollentypen schlüpfen.
Da haben wir starkes Schauspielertheater mit einer simplen Bretterbude auf der Bühne, die aufklappbar Räume (Hütte, Palast, Welt) imaginiert und Szenen gliedert (sensationell: Bühnenbildner Harald Thor, die unterm braunen Schmand geschickt skizzierten Kostüme kommen von Andrea Schaad). Und so ballert es denn ungeniert los, das Theater, das unglaublich erstaunt, mit befremdlichster Fantasie überrumpelt und ohne Zeigefingerei Gegenwärtigkeit souffliert. Das selbst im kabarettistischen Kalauer noch philosophiert.
Am Ende können wir lachen über das grauenvoll-irrwitzige Matsch-Match, trotzallem. – „Allseitige Umarmung“, so Lessings finale Regieanweisung, nachdem aller Zwist sich in göttlich-irdisch-familiäres Wohlgefallen auflöste. Kicherndes Befremden unter den marionettenhaften Schlammlingen. Ein großer Witz das alles, eine verrückte Komödie. Mit klirrender Musik wie aus der Spieldose. Und eine Tragödie, was sonst.