von Wolfgang Hochwald
Mein Freund Günter und ich wollen es nochmal versuchen, so mit Ende 50 ein Open Air-Festival besuchen. Nein, nicht Wacken, über das inzwischen ja die Feuilletons aller Zeitungen berichten und auch nicht Rock am Ring oder andere Großveranstaltungen. Wir fahren zu Haldern Pop, wo alles etwas kleiner und überschaubarer ist und unsere Musik gespielt wird: Bands und Solokünstler aus den Bereichen der Indipendent-/Alternative Musik, Singer-Songwriter, Americana, Folk und Rock, oft Musiker, die am Anfang einer Karriere stehen, aber auch immer einige national und international bekannte Bands.
Haldern ist ein kleines Dorf am Niederrhein, in dem 1984 dreizehn Ministranten und der Kaplan die Idee hatten, Live Musik zu veranstalten. Seitdem ist die Zahl der auftretenden Bands und der Zuschauer ständig gestiegen (im ersten Haldern-Jahr spielten drei Bands, in diesem Jahr 59), aber Veranstaltungsort bleibt der Alte Reitplatz. Eine Erweiterung des Festivalgeländes und eine damit mögliche Erhöhung der Besucheranzahl schließen die Veranstalter kategorisch aus. Als ich Anfang Oktober letzten Jahres trotz völlig überlasteter Server mit viel Glück zwei der nur etwa 6.000 verfügbaren Tickets erwerbe, steht allerdings noch keine einzige der Bands fest, die dann vom 13. bis 15. August dieses Jahres auftreten. Man tätigt sozusagen einen Blindeinkauf, aber kann sich auf die Expertise der Haldern-Macher verlassen. „Musikalischer Direktor“ ist Stefan Reichmann, nach meinen Informationen einer der dreizehn Ministranten, der die Festivalidee mit einem großen Team zur absoluten Professionalität gebracht hat, ohne den Charme des Überschaubaren, Unerwarteten zu verlieren.
Als wir also am Vormittag des 13. August mit einer notdürftig zusammengestellten Campingausrüstung aufbrechen, werfen unsere Frauen uns einen letzten mitleidigen Blick zu. Drei Nächte im Zelt scheinen ihnen keine Musik der Welt wert zu sein. Wie wir gelesen haben, öffnet der Campingplatz neben dem Festivalgelände um 8.00 Uhr. Wir denken uns, dass die jugendlichen Festivalbesucher wohl kaum so früh aufstehen. Aber weit gefehlt: Als wir gegen 12.30 Uhr in Haldern eintreffen, haben wir das Gefühl, so ungefähr als Vorletzte an zu kommen. Der Campingplatz ist gerammelt voll, jedes Eckchen des sehr weitläufigen Areals scheint besetzt. Mit Mühe finden wir irgendwo ein Plätzchen, um dann bei brütender Hitze unser etwas aus der Zeit gefallenes Familienzelt aufzubauen. Wie sich am Abend herausstellt direkt neben einem die ganze Nacht brummenden Stromgenerator.
Das Heftchen, das jeder Besucher bekommt und in dem alle Bands beschrieben werden, heißt übrigens auf gut niederrheinisch „Datt Blatt“. Was uns Blättchen-Freunden natürlich zusätzlich gut gefällt. Ab 16.00 Uhr beginnen die ersten Konzerte, weitgehend so organisiert, dass man – wenn man möchte – abwechselnd Auftritte auf der Open Air Bühne und im wunderbaren alten Spiegelzeit, das etwa 800 Besuchern Platz bietet, verfolgen kann. Konzerte finden zudem in der Haldern Pop Bar, einem direkt in Haldern gelegenen, ganzjährig genutzten Veranstaltungsort statt sowie in der ortsansässigen Kirche. Der erste Tag hält, was wir uns musikalisch erhofft hatten.“Dotan“, ein in Jerusalem geborener und in Amsterdam lebender Singer-Songwriter, spielt mit seiner Band wunderbar eingängige und zugleich vielschichtige Lieder aus seinem 2014er Debut „7 Layers“. Höhepunkt für uns sind „Ibeyi“, über die Die Zeit schon im Februar berichtete. „Ibeyi“ bedeutet Zwillinge auf Yoruba, der westafrikanischen Sprache und Kultur, von der Lisa-Kainde und Naomi Diaz beeinflusst sind. Sie sind die beiden 20-jährigen Töchter des verstorbenen kubanischen Buena Vista Musikers Miguel Anga Diaz und seiner französischen Frau. Naomi ist auf der Bühne für die Percussions zuständig, Lisa-Kainde spielt Klavier, die Lieder singen sie auf Französisch, Englisch und Yoruba. Die Musik ist kaum zu beschreiben, da die beiden Schwestern auf ihre ganz eigene Weise Einflüsse ihrer Kindheit in Paris mit dem musikalischen kubanischen Erbe ihres Vaters verbinden. Ein Erlebnis! Interessant auch der Auftritt von “AnnenMayKantereit“, drei Jungs aus Köln um die 20, deren Bandname sich aus ihren Nachnamen zusammensetzt. Die Band ist bei Fans unter 30 in den letzten beiden Jahren sehr populär geworden und in diesem Sommer auf vielen Festivals aufgetreten. Unglaublich, wie die Stimme des Sängers Henning May an Tom Waits erinnert und sympathisch, dass die Band ihr Programm keineswegs auf festivaltaugliche Songs umstellt, sondern bei ihren zum Teil schwergängigen Songstrukturen bleibt und das Publikum damit für sich einnimmt. Zunächst scheinen mir die Texte des Sängers eher nur dessen Altersgenossen anzusprechen. Als May dann aber sagt, dass er „Oft Gefragt“ für seinen Vater geschrieben hat, bin auch ich inhaltlich wieder dabei. Lieblingsband des Publikums am ersten Abend ist „Bilderbuch“ aus Österreich, deren Frontmann, der 25-jährige Maurice Ernst, nicht nur wegen des Dialekts an Falco erinnert. Selten einen Sänger gesehen, der mit so viel Charme, Grandezza und Nonchalance auftritt, während die hervorragende Band seinen Wiener Schmäh mit einer Mischung aus Indie-Rock und Hip Hop unterlegt. Ein interessanter Leckerbissen für alle Musikfreunde, die nochmal was Neues hören wollen.
Wir freuen uns übrigens über jeden im Publikum, der zumindest älter aussieht als wir. Aber neben den bis 30-Jährigen, die sicherlich die größte Besuchergruppe stellen, finden sich viele Besucher jeden Alters und wie wir erfahren viele Halderner, für die das Festival ein fester Bestandteil des Jahres zu sein scheint. Die Stimmung ist entspannt und angenehm. Wir erleben freundliche Menschen, viele (auch noch ungeborene) Kinder. Der Sänger der Band „Alcoholic Faith Mission“ bringt – ganz im Gegensatz zum Bandnamen – die Familienfreundlichkeit des Festivals auf den Punkt: So stolz wie ein junger Vater nur sein kann, erzählt er, dass sein vier Monate alter Sohn im Publikum sei und fordert die Zuhörer auf, doch recht bald für weiteren Nachwuchs zu sorgen und wirft deshalb vorsorglich schon mal ein Band-T-Shirt in Baby-Größe ins Publikum.
Während wir uns mit einem Gaskocher, an dem das Deutsche Museum Freude hätte, am Mittag des zweiten Tages ein paar Nudeln machen, zeigen unsere direkten Nachbarn, zwei Paare um die 40 Jahre, was wirkliche Festivaltauglichkeit ist: zwei Zelte, ein großer Pavillon, zwei gasbetriebene Kühlschränke, große Kocher, ein unerschöpflicher Vorrat an Bier und Grillfleisch, gute Musik aus bemerkenswerten Boxen. Vor lauter Camperglückseligkeit und Grillfreude verpassen die Vier aber die meisten Konzerte. Für uns dagegen beginnt der zweite Konzerttag um 14.00 Uhr im Spiegelzeit mit einem Paukenschlag, auch wenn das nun der völlig falsche Begriff für ein Konzert ist, das ausschließlich aus ruhigen Liedern besteht. „Villagers“, das ist vor allem der Sänger und Songwriter Conor O´Brien, verstehen es, wunderbare, sehr melodiöse Lieder einfühlsam vorzutragen, überwiegend Material aus ihrem aktuellen Album „Darling Arithmetic“. Das Publikum schenkt der Band zu diesem frühen Zeitpunkt am Tag eine Stunde lang absolutes Gehör und mucksmäuschenmäßige Stille. Interessant auch „Mammut“, drei isländische Musikerinnen mit eher düsteren Klängen oder Kate Tempest aus London, die zu Rap Musik Poetry Slang-ähnliche Texte in atemberaubender und damit leider auch nicht sonderlich gut zu verstehender Geschwindigkeit vorträgt. Partystimmung kommt dann am Abend beim Auftritt von Olli Schulz auf, manchen eher als Comedian aus dem TV bekannt. Der Hamburger diktiert dann auch gleich der Lokalpresse in den Block, was sie über ihn schreiben solle: „Olli Schulz ging auf Tuchfühlung mit dem Publikum und die Band zeigte sich in absoluter Spiellaune.“ Tatsächlich versteht es Olli Schulz Texte, die nachdenklich stimmen oder viel Sprachwitz auszeichnet, mit launiger Musik zu verbinden. Nächtlicher Höhepunkt dann das Konzert von Nils Frahm. Der Pianist und Komponist, der in diesem Jahr mit der „Lola“ für den Soundtrack des Echtzeitfilms „Victoria“ ausgezeichnet worden ist, hat neben einem Flügel eine Vielzahl von elektronischen Keyboard-Instrumenten und Synthesizern auf der Bühne aufbauen lassen. Daraus zaubert er Klangteppiche, die keine wiedererkennbaren Popstrukturen aufweisen und es zeigt sich, wie viel harte Arbeit elektronische Musik sein kann, wenn Frahm mehrere Instrumente gleichzeitig bedient und dabei lange Wege auf der Bühne zurücklegt. Der Auftritt ist übrigens exemplarisch für den gleichbleibend perfekten Sound, den das Haldern Festival auszeichnet.
Angesichts der weiterhin langen Schlangen vor den Duschen entscheiden wir am dritten und letzten Morgen, dass das Duschen ausfällt. Früher haben wir ja auch nur einmal pro Woche gebadet. Die Konzerte gehen zunächst wie gewohnt weiter. So wie in den 2000er Jahren „The Libertines“, „Franz Ferdinand“ oder „The Strokes“ sind es nun „The Districts“, die der klassischen Besetzung – zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug – neues Leben einhauchen und jedem Alt-Rocker Freudentränen in die Augen treiben. Dabei ist noch keiner der Bandmitglieder 21 Jahre alt. Einen schweißtreibenden Auftritt in brütender Sonne liefert auch Markus Wiebusch ab, Sänger und Gründer der Band „Kettcar“. Unterlegt mit herrlichen Bläsersätzen spielt er Songs seines ersten Soloalbums „Konfetti“ aber auch ältere „Kettcar“-Lieder. Sympathieträger Nummer Eins an diesem Tag, nicht nur weil er das Publikum mit „Hallo Haldern, alte Liebe“ begrüßt, sondern auch wegen seiner geradlinigen Art und klaren politischen Stellungnahme etwa gegen Homophobie.
Dann passiert das, was offensichtlich zu jedem guten Open Air gehört: Das Wetter schlägt um, heftige Regenschauer gehen in ein Weltuntergangsszenario über, das in der Umgebung Keller volllaufen und den Zelt- und Konzertplatz in eine einzige Matschwüste verwandelt. Wir staunen noch über „The Slow Show“ aus Manchester, die unterstützt vom Berliner Chor „Cantus Domus“ und dem Orchester „Stargaze“ des Dirigenten André de Ridder dramatische Songs mit hinreißenden Refrains liefern. Dieser Auftritt ist ein schönes Beispiel dafür, was Haldern ausmacht: Die Genregrenzen verschwimmen und das nicht wegen des Wetters. Als dieses aber eher noch schlechter wird, entscheiden wir gegen 22.00 Uhr schweren Herzens, auf die restlichen Konzerte zu verzichten, unser triefendes Zelt abzubauen und die Nacht – wenn auch sehr spät und nicht ohne dann doch mal zu duschen – wieder im heimischen Bett zu verbringen.
Zu früh aufgegeben? Eher dem Alter dann doch etwas Tribut gezollt. Als drei Tage später die Sonne wieder scheint und wir das Zelt zum Trocknen aufbauen, sind wir uns aber fast schon wieder sicher: Wenn der Vorverkauf für 2016 losgeht, werden wir wieder unser Glück versuchen.
Schlagwörter: Folk und Rock, Haldern Pop Festival, Singer-Songwriter, Wolfgang Hochwald