von Klaus Hammer
Antje Fretwurst-Colberg gehört zu den stillen Malerinnen und Grafikerinnen, die Kunst mit sich allein und wie außerhalb der zeitlichen Strömungen abmachen. Ihre biographischen Daten: 1940 in Hamburg geboren, aufgewachsen in Rostock, Kunsterziehungs-Studium in Greifswald, Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee bei Arno Mohr, zunächst in Berlin, dann in Dändorf / Mecklenburg-Vorpommern ansässig. In der Tradition der Berliner Malerschule stehend, kehrte sie in ihren meist kleinformatigen Ölbildern und Gouachen immer wieder zu vertrauten Berlin-Motiven zurück: Spreebrücken, Bahnhöfe und S-Bahn-Viadukte, Berliner Hinterhöfe, das Gespräch am Kaffeetisch oder vor der Haustür, Menschen auf der Straße oder im Lokal, eine Dampferfahrt auf der Spree. Die Aussicht durch ein Fenster ist ein häufiges Motiv. Selbst Fassaden haben ihre Faszination, zeugen von Werden und Vergehen, also Vanitas. Es gibt Charakterschilderungen, psychologische Studien, weich in der Empfindung, mit ruhig und klar beobachtendem Blick erfasst.
Nicht die übersteigerte Nervosität und Hektik der Berliner Straßenszenen interessieren sie, nicht die Großstadt als Ort anonymer Menschenmassen und künstlicher Vergnügungen inspirieren sie, sondern kleine, einfache Szenen aus dem Leben, aus dem Alltag. In einem unbewachten Augenblick konnte sie die Menschen und Dinge beobachten. In ihren Straßenbildern scheint sich die Künstlerin immer selbst zu befinden, die Häuser, Viadukte, Bäume sind ganz nah herangeholt. Der Blick in die Straßenflucht trifft auf von Menschen leere Stille und Ruhe.
Sie überrascht immer wieder die vertrauten Dinge in ihrem Blickfeld, beschneidet sie auf merkwürdige Weise, malt sie von unerwarteten Winkeln aus. Sie entwickelt einen ausgesprochenen Sinn für das Räumliche, für verkürzte oder erweiterte Perspektiven und Horizonte, für versetzte Sichten. Alles ist von einem persönlichen, nichtöffentlichen Standpunkt aus gesehen.
Den Momentaufnahmen hat sie Dauer verliehen. Geheimnisvoll, still liegt die Farbe auf ihren fast stilllebenhaften Bildern (ganz anders, viel dynamischer, expressiver, farbfreudiger waren ihre Mittelamerika-Blätter), wie Gedanken, die sich lautlos auf ihren Gegenständen abgelagert haben. Da ist viel Nachdenklichkeit und Melancholie – so richtig heiter sind ihre Arbeiten nicht. Da ist menschliche Einsamkeit und Angst, Verlorenheit im Menschengedränge, aber kein Schrei, keine unheildrohende Umwelt, mag sie noch so trist sein, keine Disharmonie und entschiedene Kontraste. Die Schönheit von Intimität und bis ins Kleinste reichender Intensität. Der Pinselstrich ist leicht und zugleich dicht verwoben, die Materie erscheint mitunter halb geformt.
Die Künstlerin hat seit einiger Zeit Aquatinten, die in ihrer Wirkung der Tuschzeichnung ähneln, mit feinnervigem Gespür für die Unwägbarkeiten des Kolorits übermalt und so weiche, aber nicht zerlaufende Farbaufträge und Lineaturen erzielt. Zeichnerische Strukturen treten bei ihr überhaupt zugunsten malerischer Ordnungen zurück.
Ein künstlerischer Höhepunkt in ihrem Schaffen stellte die Grafikfolge „Berlin Alexanderplatz“ dar, die ziemlich in Vergessenheit geraten ist und an die in ihrem 75. Geburtsjahr wieder erinnert werden soll. Zwischen 1978 und 1980 ist die Künstlerin durch Berlin-Mitte gezogen, um die Welt Franz Biberkopfs aus Alfred Döblins berühmtem Montageroman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) nachzuempfinden, die Reize und Spannungen auf sich wirken zu lassen, denen der Großstadtmensch ausgesetzt ist. Eigentlich macht nicht die Geschichte Biberkopfs, der aus dem Tegeler Gefängnis in die Gegend um den Alexanderplatz zurückkehrt und hier wieder Fuß in der Unterwelt fasst, die Handlung des Romans aus. Der wirkliche Held ist das pulsierende Leben der Großstadt, deren Dynamik sich in den Hämmern der Dampframmen beim U-Bahnbau am Alexanderplatz dem Romangeschehen mitteilt. Döblin mischt innere Monologe in Berliner Dialekt mit Zeitungsmeldungen, statistischen Berichten, Werbeslogans und Bibelzitaten, er lässt die scheinbar nebensächlichsten Dinge ihr Eigenleben führen, versetzt alles in Bewegung und Unruhe. Wie der Erzähler in Döblins Roman ständig seinen Standort wechselt, vergleichbar einer Kamera, die einmal Nahaufnahmen in Zeitlupe gibt und dann wieder aus weiter Entfernung Bilder mit verschwimmenden Umrissen, so besitzt auch Antje Fretwurst-Colberg einen ausgesprochenen Sinn für das Räumliche. Hier ist es weniger der panoramatische Weitblick als vielmehr der beschränkte, eingegrenzte, beschnittene, verengte, verschachtelte, beklemmende Raum. Sie bedient sich weniger der Kaltnadel als vielmehr der Aquatinta, jenem Ätzvorgang, dessen Verfahren im Gegensatz zur Radierung darin beruht, nicht Linien, sondern Flächen, ohne fließende Übergänge, sich nur um eine Helligkeitsstufe voneinander absetzend, herzustellen. Eine flache Ätzung ergibt einen Grauton, eine tiefe bringt satte Schwärzen. Die Einfärbung in verschiedenen Farbtönen ermöglicht zusätzlich überaus reizvolle, fast aquarellhafte Wirkungen.
Aber – wie schon gesagt – es geht Antje Fretwurst-Colberg nicht um das Sinne und Nerven in Vibration versetzende Reizmittel Großstadtstraße, sondern um die Welt des Elends, der Bedrängnis, der Verkrüppelung und des Hungers. Um die Angst der ausgelieferten menschlichen Kreatur vor undurchschaubaren Bedrohungen. Die Bildräume schrumpfen mitunter aufs Notwendigste zusammen. In drangvoll fürchterlicher Enge spielen sich die Moritaten ab. Die Häuser erscheinen in schwindelerregender Verschiebung, Straßen in einer Schaukelperspektive. Parallelen schneiden sich im Endlichen, der Horizont ist kaum zu sehen. Die Außenwelt ist schief, die Menschen befinden nicht mehr im Gleichgewicht. Die Linearperspektive ist verloren gegangen. Die Welt scheint aus den Fugen. Das Grundgefühl ist: Ausweglosigkeit. Die Un-Ordnung der Welt ist zugleich ihre Unwirklichkeit. Die traumhaft beklemmenden Visionen bedeuten eben das Leben selbst, die von der Künstlerin im damals geteilten Berlin physisch wie psychisch erlebte Wirklichkeit. Da singt Biberkopf auf den Höfen, hilft in der Brunnenstraße, tanzt wieder mit seiner Braut Mieze; da ist die Hofeinfahrt zur Fabrik zu sehen, in der er „Nummern abnimmt, Wagen kontrolliert, sieht, wer rein- und rauskommt“, und es sind zugleich die Bilder der Endsiebziger Jahre, der Bahnhof Alexanderplatz, die Dircksenstraße, der Abriss in der Rosenthaler. So tritt auch anstelle des Massenamusements in der „Neuen Welt“ an der Hasenheide, die der Künstlerin damals jenseits der Mauer nicht zugänglich war, das frierende Liebespaar vor der nächtlichen Kulisse von „Clärchens Ballhaus“. Ihre Reminiszenzen werden zum Vexierbild der Gegenwart.
Berlin hat viele Gesichter, aber Antje Fretwurst-Colberg hat eine ganz unverwechselbare Sicht- und Ausdrucksweise in die Ikonographie dieser Stadt eingebracht.
Die Galerie der Berliner Graphikpresse, 10247 Berlin-Friedrichshain, Silvio-Meier-Str. 6, zeigt Mittwoch bis Freitag 13.00 Uhr bis 19.00 Uhr und Samstag 11.00 Uhr bis 15.00 Uhr bis Malerei und Grafik von Antje Fretwurst-Colberg; bis 25. September.
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