von Frank-Rainer Schurich
In der Nacht vom 21. zum 22. August 1921 hatte sich der Arbeiter Mannheim Itzig auf der Polizeiwache in der Andreasstraße 62 gemeldet und ausgesagt, dass in der Langen Straße 88 in Berlin aus der Wohnung des Nachbarn, des Händlers Grossmann, Geschrei, Wimmern und Stöhnen zu hören sei. Darauf begaben sich zwei Beamte zum Ort des Geschehens und mussten die Tür mit Gewalt öffnen. Unter der Decke der Schlafstätte entdeckten die beiden Polizisten eine an das Bettgestell gefesselte und blutüberströmte Frau, die mit schwersten Verletzungen am Kopf und an den Genitalien starb, bevor die Beamten die Fesseln lösen konnten.
Die lange gesuchte Bestie vom Schlesischen Bahnhof war endlich dingfest gemacht worden. Bei der Durchsuchung wurden neben Frauenkleidern ein blutiger Sack, eine Bank mit zahlreichen Einschnitten und Spuren menschlichen Gewebes und Blutes, im Kochherd Überreste zweier menschlicher Hände und eines Brustkorbes gefunden. Und es wurde schnell deutlich, dass Grossmann, Schlächtergehilfe im Nebenjob, seine Opfer hier fachgerecht zerlegt und die Körperteile mit dem aufgefundenen Sack zur Schillingbrücke transportiert hatte, um sie in der Spree zu versenken. In den Jahren zuvor fand man im Fluss und im Luisenstädtischen Kanal immer wieder Köpfe, Arme und Beine. Insgesamt soll er ungefähr 20 Frauen getötet haben.
Wenig bekannt ist, dass die Polizei im Jahre 1914 schon einmal, ebenfalls von einem Nachbarn alarmiert, ein um Hilfe schreiendes 15-jähriges Mädchen aus Grossmanns damaliger Wohnung geholt hatte, sich aber mit der Erklärung zufriedengab, er habe dem Mädchen Kleider seiner verstorbenen Frau schenken wollen und nur gesagt, sie möchte sich bitte umziehen und die schönen Sachen anprobieren. Das Mädchen habe ihn eben missverstanden. Die Polizei prüfte nicht einmal, ob die Kleider von Grossmanns Frau stammen konnten, denn er war nie verheiratet gewesen, und machte sich so zum Komplicen eines Serienmörders. Wäre damals schon sachgerecht ermittelt worden, hätten viele Morde verhindert werden können.
Der bekannte Kriminalist und Leiter der Berliner Mordkommission Ernst Gennat nannte das gewöhnlich „behördliche Hilfe bei Mord“, „denn die moralische Mitschuld an den zahllosen Morden Grossmanns trägt die Justiz, die diese unverbesserliche Bestie immer wieder auf andere Menschen, die zu schützen sie bestellt war, losließ“.
Neben dem Versagen der Justiz gab und gibt es regelmäßig bei der Mörderjagd polizeiliche Pannen. Peter Sutcliffe, der britische Yorkshire Ripper (1981 verhaftet), schaffte es, die Tatwerkzeuge Hammer und Messer unter den Augen der Beamten verschwinden zu lassen. Und immer wieder muss man mit Erschütterung lesen, dass Anzeigen von Opfern, die den Totschlägern entkommen konnten, mit einer gewissen Regelhaftigkeit von der Polizei nicht ernst genommen werden. Im Fall Dennis Nilsen (gefasst in London 1983) ist dem Serienmörder Jahre vor seiner Festnahme mehr Glauben geschenkt worden, als einem seiner Opfer. Ein chinesischer Student hatte ihn 1979 wegen Mordversuchs angezeigt, doch die Klage wurde aus Mangel an Beweisen fallengelassen. Nilsen hatte behauptet, der Chinese hatte ihn berauben wollen.
Und wer´s immer noch nicht glauben will, der lese im bewegenden Bericht von Don Davis über Jeffrey Dahmer (verhaftet 1991 in Milwaukee, Wisconsin/USA), wie der 14-jährige Konerak Sinthasomphone – halbtot vor Angst und vom Täter betäubt – von den Gesetzeshütern seinem Mörder überlassen wurde. Einer von ihnen meldete noch im Revier: „Nackten betrunkenen Asiaten zu seinem Freund zurückgebracht.“ Das wurde auf Band aufgenommen, und im Hintergrund hörte man nur Gelächter …
Auch die westdeutsche Kriminalhistorie kann mit Beispielen der behördlichen Hilfe beim Serienmord aufwarten. Im Fall des Jürgen Bartsch (Kirmesmörder, Langenberg bei Wuppertal, verhaftet 1966), der insgesamt vier Jungen auf bestialische Weise umgebracht hatte, ist dieses Unglaubliche geschehen. Bartsch hatte einen kleinen Bunker im Wald entdeckt, in den er kleine Jungs lockte, sie dort fesselte und tötete. Schon im Juni 1961, als er noch keinen Mord verübt hatte, waren seine perversen Neigungen bekannt geworden, als ein Langenberger Malermeister zur Anzeige brachte, dass der Metzgersohn Jürgen Bartsch seinen Sohn Frank in den Luftschutzbunker gelockt, sexuell attackiert und gequält hatte. Die Kripo ermittelte, und der Vorfall führte zu einer Anklage vor dem Wuppertaler Amtsgericht. Das Verfahren wurde aber alsbald eingestellt, denn man glaubte mehr Bartschs Version von einer harmlosen Prügelei. Vier sadistische Morde hätten verhindert werden können.
Die WDR-Produktion Mord in Eberwalde, die den Fall des Serienmörders Erwin Hagedorn (DDR, Ende 1971 verhaftet) ideologisch verwurstet, beinhaltete nach verschiedenen Pressemitteilungen bei ihrer Wiederholung im August 2015 die Aussage, dass der Regisseur Stephan Wagner einen Film gedreht hat „über einen Mord, der von einem Staat begangen wurde“. Gemeint war damit wohl, dass der Mord an dem dritten Jungen Ronald Winkler verhindert werden können, weil er „ohne ideologische Verbohrtheit“ wahrscheinlich zu retten gewesen wäre. Weil das natürlich hanebüchener Unsinn ist, hat der Film berechtigterweise den Grimme-Preis 2014 in der Kategorie „Fiktion“ gewonnen.
Richtig ist, dass zunächst zwei Jahre mit großem Einsatz erfolglos ermittelt worden ist. Richtig ist auch, dass es einen Hinweis auf den wirklichen Täter gab. Ein Abschnittsbevollmächtigter (ABV) der Volkspolizei wurde von den Eltern eines Kindes auf Auffälligkeiten im Verhalten Erwin Hagedorns (Grobheiten und Berührungen der Kinder beim Spielen auf dem Hof) aufmerksam gemacht. Leider hatte der ABV es versäumt, diesen Sachverhalt zu melden. Ob man dann Erwin Hagedorn schneller auf die Spur gekommen wäre, scheint aber fraglich zu sein.
Erst ein Täterprofil von Prof. Dr. Dr. Hans Szewczyk (1923-1994), Ordinarius für Gerichtliche Psychiatrie an der Charité der Humboldt-Universität zu Berlin, wies den Weg zu Erwin Hagedorn, wobei der Psychiater Analogien zum Kirmesmörder herausarbeitete.
Übrigens war Szewczyk mit dieser Täterversion der erste moderne Profiler der Welt. Die Methode wurde dann später in den USA zu neuem Ruhm entwickelt. So ist es ideologisch schon ziemlich verbohrt, von einem „Mord durch die DDR“ zu sprechen, zumal die westdeutschen Kollegen damals noch gar nicht wussten, was ein wissenschaftlich fundiertes Täterprofil ist. Szewczyk hatte es damals vielleicht auch noch gar nicht so gesehen.
Keine Fiktion ist, dass im NSU-Geheimdienstskandal die Behörden epochal versagt haben. V-Leute überall in den Nazi-Netzwerken und ausreichend Informationen, aber der Täter Böhnhardt wird auf einem Jenaer Garagenkomplex nicht verhaftet und kann mit seinen Kumpanen eine 13-jährige Flucht antreten. Die Generalbundesanwaltschaft lehnt nach dem Fund von Rohrbomben in der Garage eigene Ermittlungen ab und sieht keine terroristische Vereinigung (!), die Landesämter sollen ermitteln. Als die Ehefrau eines türkischen Opfers die Ermittler darauf hinwies, doch einmal bei den Rechten zu suchen, wurde sie von den Polizisten ausgelacht …
Kurzum, wenn damals nur halbwegs professionell gearbeitet worden wäre, hätte es keine Blutspur eines NSU-Trios gegeben. In diesem Fall muss von einer besonderen Qualität der behördlichen Hilfe bei Mord gesprochen werden. Denn es macht doch einen Unterschied, wenn Ermittlungen massiv behindert werden (weshalb heute die amtlichen Zeugen in den NSU-Untersuchungsausschüssen lügen, schweigen, vertuschen und die Tatsachen verdrehen) oder wenn gravierende Fehler bei der Aufklärung von Verbrechen gemacht wurden – leider mit sehr tragischen Folgen. Das zuletzt Genannte hat es in der DDR trotz einer Aufklärungsquote von 98 Prozent und sehr gut ausgebildeten Kriminalisten bei Tötungsdelikten eben auch gegeben.
Schlagwörter: Frank-Rainer Schurich, Justiz, Mordermittlung, NSU, Polizei