von Annette Riemer
Ein Deutscher rettet 14 Palästinenser aus Syrien – den Staat schert das recht wenig. Ein Lehrstück aus der Provinz.
Der kleine Rabie sitzt teilnahmslos in der Ecke. Er spricht kaum, verfolgt kaum das Geschehen in dem Wohnzimmer, wo doch alles so turbulent durcheinander geht. Ronn Müller nennt sein Heim ironisch ein Durchgangslager für syrische Flüchtlinge. Aktuell wohnen neben seiner eigenen Familie fünf weitere Verwandte seiner Frau bei ihm, auch Rabie. Der 5-jährige Junge mit dem melancholischen Blick hat die letzten drei Jahre in Aleppo gelebt – wenn in diesem Trümmerhaufen, der wie kein anderer für die Brutalität des syrischen Bürgerkriegs steht, überhaupt gelebt werden kann. „Er ist durch den Krieg und das Wohnen im Verborgenen in seiner Entwicklung zurückgeblieben und traumatisiert“, sagt Müller über seinen Neffen. Für ihn wünscht sich der 35-jährige Ethnologe vor allem einen Kindergartenplatz, damit Rabie soziale Kontakte schließen und die deutsche Sprache lernen kann. Und unter den anderen Kindern vielleicht vergisst, was er in Syrien erleben musste: die Bombennächte, die Angst vor dem Giftgas und den Fassbomben, die IS-Milizen, die immer wieder die Wohnung seiner Eltern plünderte.
Aber so leicht ist das nicht in einem Land, das zwar die legale Einreise von Flüchtlingen ermöglicht, sofern sich für sie deutsche Bürgen finden, das aber ebendiese Bürgen dann finanziell und sozial im Stich lässt. „Der Staat rühmt sich für sein Engagement, tatsächlich aber wälzt er seine humanitäre Verantwortung vollständig auf Privatpersonen ab“, kritisiert Müller, der sich allein gelassen fühlt und längst an die Grenzen seiner Möglichkeiten angelangt ist. „Ich ernähre von einem Einkommen zehn Personen – Die Rechnung geht nie auf. Ich lande regelmäßig im Dispo.“
Sein Fall ist denkbar verzwickt und doch so einfach: Mit einer syrischen Kunsthandwerkerin verheiratet, erlebte Müller seit Beginn des Bürgerkriegs, wie Freunde und Verwandte seiner Frau ermordet wurden oder ‚verschwanden‘. Als Giftgas und Fassbomben über den Wohnvierteln von Aleppo losgelassen wurden, verfiel seine Frau Razan in Depressionen. Für Müller stand schnell fest, dass er handeln musste. „Ich kenne Razans Familie von vielen Besuchen, sie hätte dasselbe für mich getan“, erklärt er. Kurzerhand setzte Müller eine Liste mit den Namen von 14 Familienangehörigen auf, die es aus Syrien zu holen galt. Er besorgte Bürgen, um Visen zu erhalten. Er nahm einen Kredit auf, um die Überfahrt von Aleppo nach Halle (Saale) zu ermöglichen.
„Zuerst waren wir einfach nur froh, alle in Sicherheit zu wissen“, meint Razan Müller. „Doch nun fehlt es hier an allem zum Leben.“ Die an den Rollstuhl gefesselte Frau ist den Tränen nahe. Freunde der Familie unterstützten sie zwar, doch deren Kräfte sind erschöpft. Und der Staat? Wohnraum, Deutschkurse, Kindergartenplätze: „Das müssten wir alles selbst bezahlen, können es aber nicht“, erklärt Müller. „Wir kriegen keine Unterstützung, um unsere Verwandten fit für einen Neustart zu machen. Und wie sollen meine Schwägerinnen arbeiten, wenn sie die Sprache nicht erlernen dürfen? Wie sollen die Kinder im nächsten Jahr ihrer Schulpflicht nachkommen, wenn sie zuvor nicht im Kindergarten Deutsch lernen?“
Die Erfolgschancen für einen offiziellen Asylantrag sind eher gering, da eben nur Syrer in Deutschland als Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen werden – nicht aber syrische Palästinenser, die seit der Gründung Israels in dritter und vierter Generation immer noch staatenlos sind: Syrien wollte sie nie einbürgern, weil damit indirekt der Staat Israel anerkannt worden wäre. Und Deutschland will die hierher kommenden Palästinenser nicht staatenlos nennen, weil sie dann nach der Genfer Konvention früher oder später die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten müssten. Um das zu umgehen, haben Palästinenser laut Behördendeutsch eine „unbekannte Staatsbürgerschaft“, sind also in der unmöglich zu realisierenden Nachweispflicht. „Meine Verwandten sind als syrische Palästinenser praktisch geflohene Flüchtlinge und bleiben auch hier außen vor“, meint Razan Müller. „Dabei hatten sie in Syrien dasselbe auszustehen wie jedes andere Bürgerkriegsopfer egal welcher Religion und Nationalität auch.“
Um sie herum sitzen zwei ihrer Schwestern, Jehan und Safa, ihre Neffen Raed und Rabie, ihr Schwager Muhamad. Drei eigene Kinder hat das Ehepaar Müller: zehn Personen auf achtzig Quadratmetern Wohnfläche. Das gedrängte Zusammensein belastet nicht nur die Familienkasse, sondern auch das Miteinander. Budenkoller macht sich breit, dazu Resignation, weil sich fast jedes Gespräch um das knappe Geld dreht. Razans Mutter steht ein paar Straßen weiter einem ähnlich beengten Haushalt mit denselben Problemen vor.
Müller könnte zu jedem, den er aus Syrien geholt hat, die schaurigsten Geschichten erzählen: von der deutschen Botschaft in Beirut, deren libanesische Mitarbeiter nur gegen Bares zum Termin vorlassen. Von der griechischen Marine, die Flüchtlinge über Bord gehen lässt – nachdem sie ausgeraubt wurden. Von deutschen Polizisten, die in Athen die Außengrenze einer vermeintlichen Wertegemeinschaft schützen, die sich ebenda als ausschließliche Wertgemeinschaft entlarvt.
In Halle war Müller von der Offenherzigkeit vieler Bürger überrascht, aber auch von der ebenso großen Missachtung der zuständigen Ämter. „Mein Leben besteht aus nichts als Behördengängen“, meint er, „und meistens kommt nichts dabei raus.“ Nicht einmal ein Kindergartenplatz für den traumatisierten Rabie, der immer wieder scheinbar grundlos vor sich hin weint. Wie in Aleppo.
Schlagwörter: Annette Riemer, Deutschland, Flüchtlinge, Palästinenser, Syrien