von Heinz W. Konrad
Der Begriff des Fortschritts ist in der
Idee der Katastrophe zu fundieren.
Daß es „so weiter“ geht, ist die Katastrophe.
Walter Benjamin
Im kleinen spanischen Küstenstädtchen Portbou, vom französischen Cerbère nur durch einen für die Bahn untertunnelten Bergrücken getrennt, befindet sich ein Denkmal von außergewöhnlicher Eindringlichkeit. Durch den Felsen abwärts getrieben, führen 60 Stufen einer Tunneltreppe zwischen rostbraunen Wänden zum nahen Mittelmeer. Wenige Meter vor der zum Greifen nahen Brandung und nun auch himmelwärts die umgebende Gebirgslandschaft öffnend, verwehrt eine massive mannshohe Glasscheibe den Gang zum Meer; die weiteren Stufen zum Wasser sind zwar sicht-, nicht aber mehr betretbar. Unmittelbar vor einem erstrebten Ziel, so das beklemmende Empfinden von Besuchern wie uns, macht ein unüberwindbares Hindernis sein Erreichen unmöglich …
Den großartig schlichten und unpathetischen Gedenkort „Passagen“ des Israelis Dani Karavan gibt es seit 1994. Und er ist, wie Karavan selbst sagt, eigentlich kein Denkmal, sondern eine Hommage. Gewidmet ist er einem jener deutschen Exilanten, die ab 1940 aus Südfrankreich über die Pyrenäen flüchten mussten, um der zwischen den Nazis und den Vichy-Kollaborateuren vereinbarten „Auslieferung auf Verlangen“ zu entgehen, wäre dies doch gleichbedeutend gewesen mit einem Todesurteil. Walter Benjamin nun, der namhafte Philosoph, Literaturkritiker, Publizist und Übersetzer aus einer assimilierten deutsch-jüdischen Familie, hatte am 26. September 1940 die grüne Grenze überquert, in der Hoffnung, via Spanien das neutrale Lissabon erreichen zu können, von wo aus die nahezu letzte Chance bestanden hätte, ins rettende Übersee-Exil zu gelangen.
Schwer herzleidend war Benjamin die stundenlange strapaziöse Gebirgstour eine Qual; eine, von der er wusste, dass er sie kein zweites Mal durchstehen würde. Vorbereitet vom Emergency Rescue Committee und dessen Leiter in Marseille, Varian Fry, in die Berge begleitet von der deutschen Antifaschistin Lisa Fittko, unternahmen Benjamin, die Exilantin Henni Gurland und deren Sohn José in den frühen Morgenstunden des 26. September einen ersten Gang in die Berge, als Spaziergang getarnt. Das Terrain sollte wenigstens grob gesichtet werden. Nicht einmal Lisa Fittko kannte den ehemaligen Schmugglerpfad, auf den man ausweichen musste, seit der ursprüngliche Weg vom grenznäheren Cerbère, Frankreichs letztem Ort vor der Grenze, nach Portbou aufgeflogen und wegen strenger Bewachung nicht mehr gangbar war.
Dass ein neuer Weg überhaupt gefunden werden konnte, hatte Fittko maßgeblich dem Bürgermeister von Banjuls-sur-mer zu danken. Als Linker und zu diesem Zeitpunkt in Vichy-Frankreich gerade noch amtierend, hatte Monsieur Azéma Lisa Fittko diesen Pfad benannt und beschrieben – allerdings nur vage, denn der Verlauf des Weges war spätestens ab da schwer überschaubar, wo die ortsnahen Weinberge endeten und die Macchia, kleine Steineichen und Felsen pure Wildnis bildeten. Im Wissen darum, dass er selbst diesen ersten, vergleichsweise harmlosen Anstieg nächsten Tags nicht noch einmal bewältigen würde, zumal danach noch der strapaziöseste Abschnitt, der noch steilere Abstieg, bevorstand, ließ Benjamin seine Gefährten allein nach Banjuls zurückgehen, um sie nach einer Übernachtung im Freien am nächsten Tag hier zu erwarten. Nach einer stundenlangen Quälerei auf dem kaum auszumachenden Schmugglerpfad zwischen Geröll und Gestrüpp und einer nicht minder großen Strapaze des Abstiegs nach Portbou sollten Walter Benjamin und die beiden Gurlands gerettet sein und ihrem Transit durch Spanien hin nach Lissabon und von dort nach Übersee sollten keine gravierenden Hindernisse mehr im Wege liegen.
Indes: Just an einem der Vortage dieser Flucht hatten die spanischen Behörden ihre bisherige Großzügigkeit bei der Einreise über die grüne Grenze restriktiver gestaltet. Wer in Portbou einen lebenswichtigen Einreisestempel bekommen wollte, hatte nun, anders als bisher und tragischerweise auch wenig später wieder, einen französischen Ausreisestempel vorzuweisen. Andernfalls erfolgte umgehend die Abschiebung zurück nach Frankreich. Benjamin, dem man seines angegriffenen Zustandes wegen vor der Ausweisung wenigstens eine Übernachtung in Portbou zugestand, vermochte keinen Ausweg mehr für sich zu erkennen. In der Nacht zum 27. September nahm er sich im Hotel „Francia de Portbou“ das Leben. Die Aktentasche, von der er sich zuvor keine Minute getrennt hatte, da sie das Manuskript des wichtigsten Buches seines Lebens barg, das er als „wichtiger als meine eigene Person“ bezeichnete, wurde von den spanischen Behörden zwar registriert, konnte aber später nirgendwo aufgefunden werden…
Es ist für den Besucher in dieser nordöstlichsten Ecke Kataloniens zutiefst berührend zu sehen, wie das Andenken an Benjamin in Ehren gehalten und gepflegt wird. Karavans so sinnfälliger Gedenkort in Portbou mit seinen Informationstafeln über Leben, Werk und Schicksal Benjamins und die sorgsame Pflege seiner Grabstätte auf dem unmittelbar nebenan gelegenen Friedhof des Ortes belegen das eindrücklich. Der einstige Fluchtpfad trägt seinen Namen – „Chemin Walter Benjamin“ auf französischer, „Ruta Walter Benjamin“ auf spanischer Seite – und ist an mehreren Stellen mit Schautafeln ausgestattet; Walter Benjamin, so belegt das, ist hier nicht vergessen.
Ein solch ehrendes Andenken ist nicht allein auf die Person Benjamins reduziert, sein Schicksal repräsentiert lediglich das vieler deutscher Antifaschisten, die gleich ihm mit der solidarischen Hilfe von Franzosen und Spaniern über die Berge flüchten konnten, um ihr Leben zu retten – was Walter Benjamin letztlich nicht gelang. Es gilt auch jenen Dutzenden weiterer Flüchtlinge, die Lisa Fittko und ihr Mann Hans nach der ersten Tour mit Benjamin und den Gurlands über die Berge nach Spanien brachten, bevor sie schließlich selbst über Kuba in die USA exilieren mussten. Und es gilt überhaupt jenen über 2000 vor allem deutschen Antifaschisten, denen das Netzwerk Varian Frys, zu dem die in Banjuls ebenfalls geehrten Fittkos gehörten, diese Rettung möglich machte, zum Beispiel Heinrich und Nelly Mann, Golo Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel oder Hannah Arendt, denen die Flucht noch über den ursprünglichen Küstenweg bei Cerbère gelungen war. Namen, denen man in Frankreich wiederbegegnen kann, wenn man an der Côte d’Azur Station im Toulon-nahen Sanary-sur-mer macht. Hier hatte sich vor allem die exilierte deutsche Geisteselite nach ihrer Flucht aus Deutschland versammelt und in dieser „Hauptstadt der deutschen Literatur im Exil“ (Ludwig Marcuse) zeitweise gelebt und gewirkt, bis auch sie aus dem mit den Nazis kollaborierenden Frankreich Petains weiter fliehen mussten. Fast 70 Namen umfasst eine große Ehrentafel im Zentrum des Ortes, ein Rundweg mit fast 40 Informationstafeln führt zu Gebäuden, in denen unter anderem lebten: Thomas Mann, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Erwin Piscator, Ernst Bloch, Joseph Roth, Franz Werfel, Friedrich Wolf, Arnold Zweig, Stefan Zweig, Franz Hessel, Ernst Toller, Erich-Maria Remarque, Alfred Kerr, Artur Koestler … – Namen, die nicht nur in der europäischen Kulturszene für sich stehen. Dani Karavans Gedenkort meint sie, aber auch jene Tausende, die uns Hinterbliebenen unbekannt sind. In die den Weg zum Meer versperrende Glasplatte ist denn auch ein Satz eingraviert, der aus Notizen Walter Benjamins für seinen letzten, 1939 entstandenen Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“ stammt: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“
Lisa Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen, Erinnerungen 1940/41, dtv, München 1985/2004, 336 Seiten, 9,95 Euro.
Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille1940/41, Fischer, Frankfurt/Main 1995/2009, 352 Seiten, 10,95 Euro.
Schlagwörter: Exil, Flucht, Frankreich, Heinz W. Konrad, Spanien, Walter Benjamin