von Petra Pau
Es hätte der unsäglichen NSU-Nazi-Mordserie gewiss nicht bedurft, um auf Distanz zu den Ämtern für Verfassungsschutz (VS) zu gehen. Aber alle Untersuchungen in Parlamenten und Recherchen von Journalisten bestätigen: Im Zentrum des Staatsversagens beim NSU-Desaster agieren genau sie. Darin waren wir uns übrigens im Bundestag über die Fraktionen hinweg einig. Doch bei den Schlussfolgerungen blieben natürlich Differenzen, gravierende. CDU/CSU und SPD wollen den Verfassungsschutz reformieren und besser kontrollieren. DIE LINKE und Teile von Bündnis 90/Die Grünen wollen ihn als Geheimdienst auflösen und die unsägliche V-Leute-Praxis sofort beenden.
Nun hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) einen Gesetzentwurf vorgelegt. Mit ihm würden die Ämter für Verfassungsschutz gestärkt und gravierende Mängel aus dem NSU-Verfahren behoben. Sagt er. Im Kern geht es um zwei Punkte. Die V-Leute-Praxis soll rechtlich geregelt und der Informationsfluss zwischen den Ämtern verbessert werden.
Die Zeitung Das Parlament hat dazu eigens eine Beilage in „leichter Sprache“ herausgegeben. Dort heißt es: „Die Arbeit des Geheimdienstes ist schwer. Denn: Es arbeiten sehr viele Behörden zusammen. Die Bundesregierung möchte die Zusammenarbeite gerne verbessern. Damit nicht mehr so viele schlimme Sachen passieren.“ Weiter steht da leicht verständlich geschrieben: „Auch soll es im Gesetz Regeln für V-Leute geben. Das bedeutet zum Beispiel: Die Männer müssen über 18 Jahre alt sein, um für den Geheimdienst arbeiten zu können. Sie müssen sich so verhalten, dass ihre geheime Arbeit nicht auffällt. Sie dürfen auch noch keine schlimmen Sachen gemacht haben.“
Nun bin ich sehr für „leichte Sprache“. Kompliziertes wird so für manche fassbarer, Falsches deswegen aber mitnichten richtiger. Die Autoren haben einfach die Botschaften des Innenministers 1:1 übersetzt. Zu diesen gehören: V-Leute der Ämter für Verfassungsschutz dürfen szenetypische Straftaten begehen, zum Beispiel den Hitler-Gruß zeigen, mehr aber nicht, schon gar keine Körperverletzungen oder Mordversuche. Jedenfalls „grundsätzlich“! Was heißt: Es kann Ausnahmen geben. Zum Beispiel wenn das Informationsbedürfnis der Ämter schwerer wiege als die Straftat der V-Leute. In solchen Fällen habe künftig der Chef des jeweiligen Amtes für Verfassungsschutz persönlich zu wägen und zu entscheiden. So will es der Gesetzentwurf, der nunmehr in den Ausschüssen des Bundestages verhandelt wird. Also tauchen wir mal ab in die VS-NSU-Tiefen.
Carsten S. war als strammer Nazi aus Brandenburg bekannt. So hatte er gemeinsam mit rechtsextremen Kumpanen versucht, einen Nigerianer zu erschlagen, zu verbrennen, zu ersäufen. Das Opfer entkam nur knapp dem Tod. Carsten S. wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Von da an wurde er für den Verfassungsschutz interessant, als V-Mann „Piatto“. Sein V-Mann-Führer vom Verfassungsschutz chauffierte „Piatto“ verlässlich aus dem Knast zu Nazi-Konzerten. So blieb Carsten S. in der Szene und für sie aktiv. Später absolvierte Carsten S. ein Praktikum. Obendrein hatte er eine Festeinstellung in Aussicht. Das beeindruckte offenbar auch eine Richterin. Er wurde vorzeitig entlassen mit der klaren Auflage, sich künftig strikt von der Nazi-Szene fern zu halten. Allerdings wurden der Richterin damals zwei wesentliche Fakten verschwiegen: Das gelobte Praktikum hatte „Piatto“ in einem Nazi-Szene-Laden in Sachsen. Und seine mögliche Festanstellung sollte eine neue Filiale desselben in Berlin-Brandenburg sein. Alles von Verfassungsschutz’ Gnaden, Täuschung der Justiz inklusive. Kurzum: Ämter für Verfassungsschutz halfen Verfassungsfeinde aufzubauen, anstatt die Verfassung zu schützen.
Ich hatte den V-Mann-Führer von Carsten S. alias „Piatto“ übrigens im Untersuchungsausschuss gefragt: „Wie sehen Sie das im Rückblick. Glauben Sie nicht auch, dass das ein fataler Fehler war?“ Seine Antwort war eindeutig: „Nein!“ Wochen später wurde derselbe „Piatto“-Führer, Herr Meyer-Plath, Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz im Freistaat Sachsen, also der neue Chef-Entscheider. Mit anderen Worten: Die Moral, die der Bundesinnenminister aus seinem V-Leute-Gesetz herausliest, erhebt letztlich die staatliche Unmoral aus dem NSU-Desaster zum Recht.
Nachdem ich in einer aktuellen Plenardebatte des Bundestages an all das erinnert hatte, sagte mir eine wohlwollende Zuhörerin: „Das mit den V-Leuten habe ich nun verstanden. Aber wie sollen die Behörden sonst an brauchbare Informationen aus den Nazi-Netzwerken kommen? Und kann es denn falsch sein, wenn sie offener miteinander kommunizieren?“ Zwei nahe liegende Fragen, finde ich. Nur was heißt „brauchbare“, was „offener“ und was „miteinander“? Also zurück zur „Piatto“-Geschichte und dem NSU-Staatsversagen.
Der V-Mann „Piatto“ lieferte tatsächlich Informationen. Verkürzt diese: Das untergetauchte Trio aus Jena ist wahrscheinlich in Sachsen. Sie brauchen Geld und neue Papiere. Sie suchen Waffen und wollen sich ins Ausland absetzen. Später: Sie brauchen kein Geld mehr, planen aber weitere Anschläge. Das also wusste der Verfassungsschutz in Brandenburg. Und dieses Wissen teilte er mit den Ämtern für Verfassungsschutz in Thüringen und Sachsen, offen und gemeinsam. Nicht aber mit den Landeskriminalämtern in Brandenburg, Sachsen, Thüringen und im Bund, mit jenen also, die nach dem Trio fahndeten. Die wiederum sagten uns im Ausschuss unisono: Hätten wir das gewusst, so wären wir dem Nazi-Trio auf die Spur gekommen, und zwar bevor deren Mordserie begann. Für sie waren die V-Mann-Informationen unzugänglich.
Denn die Kriminalämter sollten und durften sie aus Prinzip nicht erfahren, weil sonst der mögliche Informant, also „Piatto“, aufgeflogen wäre. In Geheimdienstkreisen gilt weiterhin ehern: Der Schutz ihrer Quellen geht vor Strafermittlungen. Und das war nicht nur im Fall „Piatto“ so. In Kassel wurde von der NSU-Bande der Besitzer eines Internetcafés ermordet. Zur Tatzeit am Tatort war ein Beamter des Verfassungsschutzes. Er war zugleich V-Mann-Führer, auch ins Nazi-Milieu hinein. Die Polizei wollte ihn als Zeugen befragen, durfte es aber nicht. Es kam zum Konflikt zwischen Landeskriminalamt und Landesamt für Verfassungsschutz, zwischen Ermittlungen und Quellenschutz. Der zuständige Innenminister entschied zugunsten des Geheimdienstes. Inzwischen wurde der damalige Entscheider, Volker Bouffier, Ministerpräsident von Hessen.
Nichts von alledem stellt der neue Gesetzentwurf von Bundesinnenminister Thomas de Maizière auch nur ansatzweise in Frage: nicht die Prinzipien, nicht die Praktiken, nicht die Personalia. Alles bleibt beim Alten, ausgenommen: Es soll noch mehr Geld und Befugnisse für die Verfassungsschutzämter geben. Oder in „leichter Sprache“ formuliert: Geheim-Dienste haben es manchmal schwer, Schlimmes zu tun. Das soll nun besser gehen.
PS: Das Gesetz wurde am 03. Juli 2015 im Deutschen Bundestag mit den Stimmen der CDU, CSU und SPD beschlossen. Eine Änderung in letzter Minute soll verhindern, dass Schwerstkriminelle als V-Leute geworben werden. Lang lebe der gute Glaube im Geheimen… Die beschriebenen Dilemmata bleiben ohnehin.
Schlagwörter: Petra Pau, Thomas de Maizière, V-Leute, Verfassungsschutz