von Kai Ehlers
Zwei Botschaften der deutschen Kanzlerin begleiten zurzeit die Politik der Europäischen Union in Bezug auf Griechenland und die Ukraine. Die eine lautet: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Die andere verspricht: In der Ukraine werden die europäischen Werte verteidigt. Frieden, Freiheit und Wohlstand seien alles andere als selbstverständlich, setzte die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung zum Jahreswechsel 2014/2015 hinzu. „Stets aufs Neue müssen wir für sie eintreten“, erklärte sie. „Wir müssen unsere Werte schützen und verteidigen.“ Europa müsse zu neuer und vor allem auch wirtschaftlicher Stärke geführt werden, das bleibe die große Herausforderung der kommenden Monate und Jahre.
Wer tiefer gräbt, stößt auf genauere Beschreibungen der Werte, die die deutsche Kanzlerin schützen, verteidigen und erweitern möchte. So auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2013, wo sie in einer eindringlichen Rede unter Stichworten wie „Wirtschaftswachstum“, „Stabilitätsunion“, „Strukturreform für mehr Wettbewerbsfähigkeit“ einen „Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit“ in der Europäischen Union vorschlug. In dem Pakt sollen, so die Kanzlerin, „die Nationalstaaten Abkommen und Verträge mit der EU-Kommission schließen, in denen sie sich jeweils verpflichten, Elemente der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die in diesen Ländern noch nicht dem notwendigen Stand der Wettbewerbsfähigkeit entsprechen.“
Dabei werde es, so die Kanzlerin weiter, „oft um Dinge wie Lohnzusatzkosten, Lohnstückkosten, Forschungsausgaben, Infrastrukturen und Effizienz der Verwaltungen gehen – also um Dinge, die in nationaler Hoheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union liegen. Das heißt also, die nationalen Parlamente müssten solche Verträge legitimieren. Diese Verträge müssen dann verbindlich sein, sodass wir feststellen können, inwieweit sich im Euroraum die Wettbewerbsfähigkeit verbessert.“ Auch gehe es darum „die Mobilität der Arbeitskräfte im Binnenmarkt der Europäischen Union zu verbessern.“
„Insgesamt“, schloss die Kanzlerin, „ist das Thema Wettbewerbsfähigkeit ein zentrales Thema für den Wohlstand Europas in der Zukunft… Um diese Frage ging es in den vergangenen Jahren und wird es auch in den kommenden Jahren gehen.“
Wer es noch etwas genauer wissen möchte, schaue zurück auf das EU-Programm „Europa 2020 – die Wachstumsstrategie der EU“, das 2010 – laut Eigendarstellung seiner Initiatoren – „von den fünf Präsidenten“ entwickelt wurde. Genannt werden: die Präsidenten der Europäischen Kommission, des Europäischen Rats, der Eurogruppe, der Europäischen Zentralbank und des europäischen Parlaments.
Leitender Gedanke dieses Programms ist die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit. Entwickelt werden sollen fünf Kernbereiche: Beschäftigung, Innovation, Klima und Energie, Bildung und soziale Integration – alles expressis verbis unter dem Primat des Wachstums und der Wettbewerbsfähigkeit. Darüber soll zentral Bericht geführt werden. „Dreh- und Angelpunkt für die Wettbewerbsfähigkeit“, so ungetrübt durch politische Schnörkel nachzulesen in einschlägigen Kommentaren zum Programm „Europa 2020“, „sind die nationalen Lohnstückkosten.“
Dass diese wettbewerbsfähig sind, habe bisher jedes Land über geeignete wirtschaftspolitische Entscheidungen und Mechanismen der Lohnfindung selbst sicherzustellen. Aber „könnte es nicht sein“, so fragen die Kommentatoren unverblümt , „dass die vorgesehene Berichterstattung („feststellen“ bei Angela Merkel – Anm. K.E.) sich nicht nur auf das Monitoring der ‚Kernziele‘ beschränken, sondern sich auch auf die Lohnfindung erstrecken würde, und dass sich dann Empfehlungen durchsetzen, die folgendermaßen lauten: Länder mit niedriger Wettbewerbsfähigkeit sollten zwar Lohnrückhaltung üben, solche mit hoher Wettbewerbsfähigkeit hingegen eine expansive Lohnpolitik verfolgen?“
Das alles klingt für viele Menschen möglicherweise progressiv, vernünftig und in manchen Ohren vielleicht sogar gerecht in Bezug auf die unterschiedlichen Niveaus der heutigen europäischen Mitgliedstaaten. Angesichts der Teilnahme des Präsidenten des Europäischen Parlamentes an der Entwicklung des Programmes „Europa 2020“ sowie angesichts der Zustimmung, die Angela Merkel für ihre Aufrufe zur Umsetzung des Konzepts in Davos 2013 erhielt, Kritik blieb jedenfalls aus, erscheint es manchem vielleicht sogar demokratisch. Faktisch läuft „Europa 2020“ jedoch auf ein sozio-ökonomisches Stufenmodell und dieses auf eine systematische Peripherisierung der weniger entwickelten Mitglieder der EU, auf eine geographisch verdeckte Form neuerlicher Klassenteilungen unter Führung der „wettbewerbsfähigsten“ Länder hinaus.
Am Konflikt um Griechenland bricht diese Struktur, die sich in den letzten Jahren unübersehbar bei Neumitgliedern der Union wie Bulgarien, Rumänien und anderen herausgebildet hat, jetzt erstmals offen innerhalb und am Konflikt um die Ukraine exemplarisch und ebenso offen auch in den „assoziierten“ Außenbeziehungen der EU auf.
Von Griechenland wird verlangt, sich den Diktaten der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU zu beugen, von der Ukraine wird das Gleiche vor den Grenzen, im osteuropäischen Glacis der EU verlangt. Das Grundprogramm ist in beiden Fällen das Gleiche – radikale Absenkung des Lebensniveaus der abhängig arbeitenden Bevölkerung, Lohndumping, Rentenkürzung, Kürzungen der Sozialetats und so weiter zugunsten dessen, was in der Spitze der EU „Wachstum“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ genannt wird.
Dass „Wachstum“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ im Kern Wachstum des Profits für eine Minderheit und nicht Erhöhung des Lebensniveaus für die gesamte Gesellschaft bedeuten, muss hier nicht lange bewiesen werden – es liegt durch die Ergebnisse der Entwicklung in Griechenland, ebenso wie in der Ukraine auf der Hand. Es wird ja sogar von den Vertretern dieser Politik nicht geleugnet – aber eben als „alternativlos“ hingestellt.
Und dass diese Entwicklung nicht in Griechenland halt macht, sondern die Tendenz hat, von den Rändern her die ganze Union zu erfassen, ist ebenfalls klar, genauso, wie der Absturz der Ukraine in eine prekäre Abhängigkeit von den Zentren der EU schon jetzt nicht auf die Ukraine beschränkt ist. Revolten innerhalb der EU wie in ihrem assoziierten Einflussbereich, abenteuerliche Alleingänge und Abspaltungen nationaler Interessen sind absehbar, wenn die weitere Verfestigung hegemonialer Strukturen in der EU sich fortsetzt.
So gesehen, ist der Kanzlerin durchaus zuzustimmen, dass, wenn der Euro scheitere, auch Europa scheitern werde und wenn sie mahnt, in der Ukraine, würden europäische Werte verteidigt, genauer, um den Feinheiten ihrer Diplomatie gerecht zu werden, sie müssten dort verteidigt werden. Es ist nur genauer hinzuschauen, welches Europa scheitern könnte und verteidigt werden soll: Ist es der Kulturraum Europa? Ist es die Europäische Union? Ist es der Euroraum? Oder ist es nur der Vorrang des Wettbewerbs vor der Kooperation; am Ende gar nur die Vormachtstellung Deutschlands im Kampf um Wettbewerb? Und wer, fragt man sich schließlich noch, sind die Nutznießer dieser Vormachtstellung in Deutschland selbst?
Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach, aber klar: Es sind nicht die kulturellen Werte Europas, die scheitern. Es ist auch nicht die Europäische Union kooperativ miteinander verbundener Staaten, nicht die Idee eine Föderation Europa, die scheitern könnte.
Was offensichtlich scheitert, zumindest hart in die Krise kommt, ist die Perspektive eines europäischen Stufenmodells, an dessen Spitze eine ökonomisch aufrüstende Vormacht Deutschland steht, erweitert um Frankreich und eine begrenze Anzahl von Mittelmächten, umgeben von einem abgestuften Feld der ökonomischen und politischen Abhängigkeiten. Dieses Modell ist nicht überlebensfähig. Was sich am Horizont dagegen abzeichnet, ist ein Europa, dessen Bedeutung für die Zukunft nicht „vorrangig“, wie Kanzlerin Merkel meint, in seiner Rolle als zentralistisch geführte Wettbewerbsgemeinschaft, sondern als kommunal, regional und föderal gegliederter Kulturraum liegt. Das wäre auch die Botschaft, die Europa in die heute aktuellen Fragen einer anderen als der bisherigen Staaten- und Weltordnung einzubringen hätte, statt die Konkurrenz ihrerseits zu verschärfen und daran zu zerbrechen. Das wäre die Botschaft, die in eine Kiewer Neuordnung zu tragen wäre. Das wäre die Lehre, die aus dem griechischen Ringen um Selbstständigkeit zu ziehen wäre – ein Europa, das eine kommunale, regionale und föderale Kooperation als Zukunftsidee in die Welt trägt. Dass dieser Gedanke eine Utopie beschreibt, ist klar. Aber wie, bitte, sähe die Welt morgen ohne eine solche Utopie aus.
Schlagwörter: EU, Europa 2020, Griechenland, Kai Ehlers, Ukraine