18. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2015

Gott ist ein Schlitzohr und schaut Krimis

von Hans-Dieter Schütt

Politische Prozesse sind ein Geflecht aus individuellen Einflüssen, aber zugleich langwierigen bürokratischen Passagen, die von Werk und Wechsel der Akteure unbeeinflusst bleiben. Natürlich wird nach dem Referendum in Athen weiter über Griechenland und also über das Kulturniveau Europas verhandelt – Politik ist das Wasser, das sich nach einem Steinwurf wieder schließt, ist der geduldige Stoff, der alles schluckt und morgen ins Gleichmaß zwingt, was eben noch Wellen erzeugte. Auch das, was man gemeinhin das Volk nennt, bleibt jenseits aller Aufwallungen das gleiche Wesen: Die Neigung der Menschen, unbedingt geleitet, geführt und erlöst zu werden, entspricht exakt der Abneigung, die jede Bevölkerung in Abständen gegen jene empfindet, von denen sie geleitet und geführt und angeblich erlöst wird. Egal, ob von links oder mittig oder von rechts. So öffnen und so verbiegen und so schließen sich immer wieder die Kreise, die wir Demokratie nennen. Und schnell und kalt streicht die Geschichte, zu fortlaufendem Betrieb verdammt, bestimmte Namen aus dem Merkbuch der politischen Konjunktur.
Yanis Varoufakis zum Beispiel, der griechische Finanzminister: weg vom Fenster, aus dem nun neue Krisenkönige und Krisenknechte in jenes Weite grüßen, das doch immer enger wird. Die plötzliche Zuspitzung von Wirren, das dringliche Aufblitzen eines Alternativgeistes, das wachsende Energiefeld frei werdender Kräfte – dies alles spült von Zeit zu Zeit solche Charaktere wie Varoufakis in die Politik, in jenen Funktionskreis also, in dem Menschen gemäßigt, entkantet, abgeschleift werden, und wo jedes Wort letztlich der Kunstgriff eines Verstandes ist, der sich und alle anderen aufs Einschlafen vorbereitet. „Erst in der Stromlinienform erfüllt sich jenes Talent, das Gemeinschaften am Leben hält.“ Schrieb Balzac und ergänzte: „Es ist das Leben kleiner Seelen, deren Angst vor dem Extravaganten alle anderen Ängste überwiegt – sie nennen das Sittsamkeit. Und sie halten Gemeinschaften tatsächlich am Leben und sind so der Grund für Ruhe und Verzweiflung gleichermaßen.“
Varoufakis dagegen präsentierte, was viele Menschen – schon gar der politischen Branche – mit kitzelndem Schauder betrachten. Weil sie selber so arm an Aura sind, so elend im Charisma, so mausgrau im Mittel-Maßanzug oder im Mittelmaß-Anzug. Das Entscheidende an des Griechen Ausstrahlung war nämlich die Zweischneidigkeit. Er war Sozialfanal und Filou. Ein Hauch Grobheit im Intelligenzpaket. Anteile frecher Glatzköpfigkeit in der so ausgefeilten Kultur des betuchten Lebemanns. Eine gewisse Unwägbarkeit macht den Reiz solcher Typen aus; sie sind ganz sie selber – und just dadurch ein Sprungbrett in die Imagination. Ein Finanzordnungshüter mit einem Gesicht, das auch einem Bankräuber gehören könnte – Gott, der Schöpfer, ist ein Schlitzohr und geht offenbar gern in französische Krimis von Melville. Varoufakis, der Bonvivant mit den Zügen des Brachialtyps. Immer auf dem Sprung, auf etwas zu – und von etwas weg. So kerlig wie keusch, so keilend wie kindlich. So jemand neben Schatzkanzler George Osborne oder EU-Währungskommissar Pierre Moscovici oder Wolfgang Schäuble?
Der Grieche trug das Schwarz der Anarchie, aber auch das Blau von Nationalflagge und Europa-Fahne – und diese Fahne, also das Hemd, hing gern ein wenig über der Hose. Ein Spieler. Wann konnte das denn in jüngster Zeit (oder überhaupt!) von einem linken Politiker gesagt werden – niemand darf leichtfertig beteuern, Spielen und Linkssein gehörten zusammen. Der Spieler stürzt sich hinein, der Linke konzipiert sich hinein. Der Spieler hat die Courage, einfach abzuhauen – wo sich die meisten Menschen nur davonstehlen. Varoufakis fuhr mit dem Motorrad aus dem Amt, seine Frau ohne Helm auf dem Rücksitz – das hatte Stil, weil: noch in der Flucht ein Regelverstoß auf dem Soziussitz. Es fällt einem der französische Sozialist Hollande ein, der auf einem Motorroller wie ein blasser feiger Spießbürger zu seiner Geliebten puckerte. Varoufakis dagegen drehte auf, bis zuletzt. Zuletzt am lautesten. Yamaha-Knattern kontra jenen klag-, ja stimmlosen parlamentarischen Ochsentour-ismus jener Vielen, die ein Leben lang unterwegs sind, indem sie auf der Stelle treten.
Klar, dass so einer auf die Stoff gewordene Uniformmacht der Krawatte verzichtet. Er ist der Typ, der aus den Dingern ein Fluchtseil knüpft. „Es kann der prunkend pralle Eigensinn nicht Reiche retten, die sind zu fest gefügt ins Eiserne, doch kann der Eigensinn die Fessel lösen, die dich ans Eisen fremder Pläne schließt.“ Schiller. Varoufakis als einer, der verstanden hat: Die Welt bestraft stets den, der seinen Stolz vergisst. Es sieht ein wenig so aus, als habe sich dieser Politiker – unterm Diktat seines Naturells – seinen Pflichten entrissen; nein, er hat einfach nicht zugelassen, dass diese Pflichten ihn fesseln.
Er ist – wahrlich in allem, was man anführen könnte! – das totale Gegenbild etwa zu einer Regine Hildebrandt, die nach 1990 im Land Brandenburg zum Bild der normsprengenden Regierungsarbeiterin wurde. In einem Punkt freilich steckt Ähnlichkeit: Plötzlich ist da jemand, dessen Erscheinungsart unsere dringlichen Fragen an die Politik einer wirklichen Moderne, ja: verkörpert. Was soll in Zeiten großer Krisen noch dieser elende Kulturismus aufgesetzter Zeremonien? Was soll im weltpolitischen Umgang miteinander dieser kostspielige Zirkus der protokollarischen Riten? Wie lange noch diese höfische Abgehobenheit, dieses gepanzerte Kosmetiklächeln? Wann endlich ein Gesprächs- und Verhandlungspragmatismus, der dem Ernst der Weltkrisen entspricht und nicht länger Scheinwelten errichtet, in denen Scheine verbrannt werden, die dringend anderswo benötigt werden?
Varoufakis war im Frühjahr zu einer Konferenz in den baltischen Staaten, er wurde den gesamten Tag von den europäischen Verhandlungspartnern bedrängt, belehrt, schließlich beleidigt, und am Abend, zum Geschäftsessen, wo manches Problem ganz anders, nämlich intern besprochen würde, da brüskierte der Politiker die offizielle Runde, ging lieber mit Freunden in eine Eckkneipe. Diplomatisch fatal, politisch verheerend – aber doch sehr verständlich: Charakter siegte über Norm; der Grieche tat, was sich Millionen Abhängige täglich ersehnen: endlich mal keine gute Miene mehr zum bösen Spiel machen zu müssen. Endlich mal so tun, als sei man frei. Endlich mal eine Pause inmitten der vielen Seelenbeschädigungen, die man sich, die man einander zumutet, um im Geschäft zu bleiben. Man stelle sich Varoufakis im verkopften Deutschland vor. Geht nicht. Wir halten Lockerheit für eine Fehlleistung von Schrauben, Gesetzeswerken und Gesinnungsregeln. Wir kommen mit Persönlichkeit und Geschichte nicht zurande, sobald Persönlichkeit stärker wirkt als irgendein Aufriss oder Abriss oder Grundriss. Ich wage den traurigen Verdacht auszusprechen, dass sogar das Verhältnis des wacker-weitherzigen Bodo Ramelow zu seinem aufreizend mickrigen Hund inzwischen wahrscheinlich ein wenig staatsmännisch, also langweilig geworden ist.
Im Auftrag von Tsipras und mehr wohl noch im eigenem Auftrag hat Varoufakis bewiesen: Eine Idee, eine Haltung hat nur Sinn und Sinnlichkeit, wenn sie nachdrücklich, maßlos, auf absolute Weise und mit nahezu ungerechter Ausschließlichkeit verkündet und eine Weile durchgehalten wird. Dennoch besteht die Wahrheit freilich in den stilleren Zwischentönen, den Halbschatten und vielleicht den Zwischenräumen der Ideen. Zum Jubel oder Entsetzen über das griechische Referendums-Rückgrat wird sich also bald schon der biegsame Realismus gesellen, der die öde klassenkämpferischen und triefend ideologiepathetischen Töne auf allen Seiten relativiert. Diejenigen, die Varoufakis als „Terroristen“ bezeichnete – sie bleiben Verhandlungspartner Athens, und der Ex-Finanzminister selbst bleibt in kräftiger Erinnerung als jener Typus, den die Politik dringend benötigt, aber nicht allzu lange aushält. „Lass eine ungebärdge Seele, frisch und stark ins Wilde, Reißende verliebt, nur kurz den Weg ins graue Reich der Regeln finden, und schon verwirrt sich aller Geist in diesem Reich, und was gemeißelt schien, das wankt nun hin und her.“ Shakespeare. Der kannte sich aus bei den Griechen und Römern und Mythen, und eine Jahrtausende währende Adaptionsgeschichte uralter Erzählungen von Mensch und Macht offenbart immer wieder, wie viel sich wandelte, wie wenig sich änderte.

Aus neues deutschland, 10.07.2015. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.